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VERHANDLUNGEN : Eine unendliche Geschichte

Ein EU-Beitritt der Türkei steht weiterhin in den Sternen. Das hat mit der innenpolitischen Lage im Land, aber auch mit den Befindlichkeiten in Europa zu tun

21.03.2016
2023-08-30T12:29:58.7200Z
4 Min

Vom belgischen Surrealisten René Magritte ist überliefert, dass er sich an einem seiner Gäste einmal ein gewagtes Experiment erlaubt habe: Der Künstler bat den Ärmsten, es handelte sich um den Gatten der Freundin seiner Frau, daheim in Brüssel in den Salon und versetzte seinem Gast unversehens einen Fußtritt. Beide Herren ließen sich im Anschluss nicht davon abhalten, bei einer Tasse Tee Platz zu nehmen und den Zwischenfall geflissentlich zu ignorieren.

Mancher Beobachter könnte sich in diesen Tagen bei den Gesprächen zwischen der Türkei und der EU leicht an das Arrangement eines solchen Kammerspiels erinnert fühlen: Wenige Tage bevor sich Anfang März die Staats- und Regierungschefs in Brüssel trafen, um die Details der Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise zu besprechen und den EU-Beitrittsverhandlungen auf Wunsch der Türkei wieder neuen Schwung zu geben, machte die Nachricht die Runde, dass türkische Behörden nach einem Gerichtsbeschluss die Zeitung "Zaman" unter staatliche Kontrolle gestellt hatten. Das regierungskritische Blatt, das der konservativen "Hizmet-Bewegung" zugerechnet wird, war nach der Aktion nicht mehr wiederzuerkennen. Auf der Titelseite lächelte nun ein väterlich winkender türkischer Präsident Erdogan. Auch wenn der türkische Premier Ahmet Davutoglu darin "sicher keine politischen, sondern rechtliche Vorgänge" sehen wollte, verstand manch einer in Brüssel den zeitlichen Zusammenfall von EU-Gipfel und der Erstürmung der "Zaman"-Redaktion als demonstrativen Wink: In Brüssel solle man nicht den Eindruck bekommen, dass Ankara sich jedes Zugeständnis abringen lasse.

Seit mindestens 17 Jahren steht ein EU-Beitritt der Türkei im Raum. Seit sich die EU-Staats- und Regierungschefs 2005 auf ein Beitrittsverfahren verständigt haben, wird - mal mehr, mal weniger - zwischen Brüssel und Ankara verhandelt. Das Land am Bosporus hat sich auf dem Weg zum Beitritt verpflichtet, den gesamten "Acquis communautaire", also den gemeinsamen Rechtsbestand der EU-Mitglieder Schritt für Schritt zu übernehmen - vom Handel- und Wettbewerbsrecht bis hin zu Pressefreiheit und Minderheitenschutz. Der Widerstand gegen einen Beitritt ist in vielen EU-Hauptstädten beträchtlich, was sich in einer Reihe von Notbremsen im Verhandlungsmandat an die EU-Kommission spiegelt: So behält sich EU ein Vetorecht auch dann noch vor, wenn die Türkei eines Tages alle Beitrittsbedingungen erfüllen sollte. Begründet wird das mit der dann zu beurteilenden Aufnahmefähigkeit des europäischen Staatenbundes.

Die regierende AKP-Partei unter Recip Tayyp Erdogang ist seit 2005 in wiederkehrenden Anläufen durchaus Reformen angegangen - etwa bei Justiz, Militär, auch bei der Angleichung von Rechtsvorschriften beim Umweltschutz, bei den Rechten für Gewerkschaften und beim Urheberrecht. Immer wieder aber musste der jährliche Fortschrittsbericht der EU-Kommission auch nachlassende Reformbereitschaft insbesondere bei der Lage der Menschenrechte und Minderheiten in der Türkei feststellen - und je instabiler die Lage im Irak und Syrien in den letzten Jahren wurde, desto größer wurde diese Kritik. Genau dies gab wiederum den Skeptikern unter den EU-Regierungen Argumente in die Hand, die Eröffnung neuer Verhandlungskapitel hinauszuzögern. Von insgesamt 33 Kapiteln der Beitrittsverhandlungen ist heute eines abgeschlossen (Wissenschaft und Forschung). Die meisten sind zwar eröffnet, zuletzt im Dezember das Kapitel zu Wirtschafts- und Währungspolitik, eine ganze Reihe davon aber auf Eis gelegt. Die aus rechtsstaatlicher Sicht besonders wichtigen Kapitel 23 und 24 (Justiz und Grundrechte sowie Justiz, Freiheit und Sicherheit) sind nicht einmal auf der Tagesordnung gewesen. Der letzte Fortschrittsbericht der EU-Kommission aus dem Herbst 2015 spricht zudem von "bemerkenswerten Rückschritten" bei demokratischen Grundrechten wie der Meinungs- und der Versammlungsfreiheit. Stillstand gebe es bei der Kurdenfrage. Während in der Vergangenheit einige Fortschritte erzielt worden seien und politische sensible Fragen öffentlich diskutiert werden konnten, seien "neue polizeiliche Ermittlungsverfahren gegen Journalisten, Schriftsteller und die Nutzer sozialer Medien Besorgnis erregend". Auch mit Blick auf die Versammlungsfreiheit wirft die EU-Kommission der Türkei "eine wachsende Intoleranz gegenüber öffentlichen Protesten und eine restriktive Interpretation des Versammlungsrechts" vor. All dies sind mehr oder weniger diplomatische Beschreibungen für eine Kritik, die sowohl die türkische Opposition wie auch die Opposition in Deutschland gegen die türkische Führung erhebt: Erdogan nehme Justiz und Presse an die Kandare, er wolle die Türkei zu einem autoritären Staat nach dem heimlichen Vorbild von Putins Machtvertikale umbauen, er führe einen Bürgerkrieg gegen Kurden, spiele im Kampf gegen den "Islamischen Staat" in den Nachbarstaaten Syrien und Irak eine undurchschaubares Spiel und riskiere obendrein die Konfrontation mit Russland.

Es bleiben also dicke Bretter zu bohren zwischen EU und Türkei. Hinzu kommt ein alter Konflikt, für den es bis heute keine politische Lösung gibt: Erst vergangene Woche machte die Regierung der Republik Zypern unmissverständlich deutlich, dass sie EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei blockieren wolle, sollte diese das EU-Mitglied nicht anerkennen.