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DEUTSCHLAND-POLEN : »Neue Ära in der Geschichte beider Länder«

Fraktionen würdigen Unterzeichnung des Nachbarschaftsvertrages vor 25 Jahren. Streit über Charta der Vertriebenen überschattet die Debatte

27.06.2016
2023-08-30T12:30:03.7200Z
4 Min

Vor 25 Jahren, am 17. Juni 1991, unterzeichneten Deutschland und Polen den "Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Beziehungen", kurz Nachbarschaftsvertrag. 52 Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen und den von den deutschen Besatzern verübten Gräueln markierte er einen bedeutenden Neuanfang in den Beziehungen beider Länder und bildete die Grundlage für die inzwischen enge Zusammenarbeit auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene (siehe Stichwort).

Die historische Bedeutung des Vertragswerks ist heute unumstritten, auch wenn es um die politischen Beziehungen beider Länder in Zeiten der Flüchtlingskrise und nach dem Sieg der nationalkonservativen Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) bei der Parlamentswahl im Herbst derzeit nicht gut steht. Doch das war nicht der Grund, warum sich der Bundestag mit dem Jubiläum so schwer tat. Ursprünglich hatten die Fraktionen schon vor dem Jahrestag eine gemeinsame Entschließung auf den Weg bringen wollen, in der die Erfolge des Nachbarschaftsvertrages gewürdigt und die Bundesregierung zu einer weiteren Vertiefung der Zusammenarbeit aufgefordert werden sollte. Aber dazu kam es nicht. Zwei Tage vor dem am 10. Juni geplanten Votum zog die SPD-Fraktion ihre Zustimmung zu dem Antrag zurück. Auch Bündnis 90/Die Grünen waren nicht bereit, ihn mitzutragen.

Umstrittenes Dokument Der Streit entzündete sich an der von der Unionsfraktion forcierten Würdigung der Rolle der Vertriebenen im Versöhnungsprozess und der Erwähnung der 1950 verabschiedeten "Charta der deutschen Heimatvertriebenen". In ihr ist der Verzicht auf "Rache und Vergeltung" festgeschrieben, aber auch das "Recht auf Heimat".

Union und SPD einigten sich schließlich auf einen Kompromiss, weswegen der Bundestag am vergangenen Donnerstag doch einen gemeinsamen Antrag (18/8861) verabschieden konnte. Darin betonen beide, dass der Versöhnungsgedanke auch von denjenigen Heimatvertriebenen, "die sich für Versöhnung engagierten und sich der Forderung in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5. August 1950 nach Gewaltverzicht besonders verpflichtet fühlten" vorangetrieben worden sei.

Die Grünen mochten sich dem erneut nicht anschließen und legten einen eigenen - im Grundsatz gleichlautenden - Antrag (18/8765) vor, der jedoch keine Mehrheit im Plenum fand. Auch sie würdigen darin die Versöhnungsleistung der Heimatvertriebenen, ergänzten die entsprechende Passage aber um den Absatz: "(...) auch wenn die Charta aufgrund des Postulats eines Rechts auf Heimat im Verständnis eines Rechts auf Rückkehr und aufgrund der Vorgeschichte einiger ihrer Unterzeichner in ihrer Versöhnungsleistung historisch nicht unumstrittenen ist". Für Manuel Sarrazin (Grüne) ein wichtiger Zusatz: "Es geht nicht darum, die Leistung von Vertriebenen nicht zu würdigen", versicherte er, sondern darum, "zu kontextualisieren, dass die Formulierung des Rechts auf Heimat, des Rechts auf Rückkehr, nach 1950 ein großes, großes Problem für die Versöhnung war". Seine Fraktion sehe die Charta in ihrer Gesamtheit "nicht nur als Schritt in die richtige Richtung, sondern als Dokument von Radikalität und Mäßigung gleichzeitig", erklärte er.

Thomas Nord (Die Linke) urteilte, die Charta spiele in Deutschland schon seit Jahren keine Rolle mehr. Dass CDU und CSU sie gerade jetzt "aus der Mottenkiste" holten und damit einen gemeinsamen Antrag aller Fraktionen unmöglich machten, sei "dem Anlass unangemessen und rückwärtsgewandt". Für die SPD stellte Dietmar Nietan die "zugegeben gewagte These auf", dass es längst einen gemeinsamen Antrag gegeben hätte, wenn er, Manuel Sarrazin und Christoph Bergner (CDU) dies alleine hätten entscheiden können. Damit sprach er indirekt diejenigen in der Unionsfraktion an, die sich besonders für die umstrittene Passage eingesetzt hatten, darunter der CSU-Abgeordnete Bernd Fabritius, der zugleich Präsident des Bundes der Vertriebenen (BdV) ist.

Fabritius mochte im Plenum seine Verärgerung über den Disput nicht verbergen. Er zeigte sich enttäuscht über das Verhalten der SPD und warf den Grünen mit Verweis auf das erlittene Leid der Heimatvertriebenen "Empathielosigkeit" und "moralische Überheblichkeit gegenüber den eigenen Opfern von Flucht und Vertreibung" vor. Die Grünen wollten die Charta mit dem darin "selbstverständlich enthaltenen Recht auf Heimat, natürlich verbunden mit einem prinzipiellen Recht auf Rückkehr nach ethnischen Säuberungen in Verruf" bringen, schlussfolgerte er. Dabei hätten die deutschen Vertriebenen in der Charta "frühzeitig die Hand zur Versöhnung gereicht".

So heftig der Streit über die Vertriebenen-Charta auch ausgetragen wurde, die Verdienste des Nachbarschaftsvertrages lobten alle Fraktionen gleichermaßen. Von einer "Erfolgsgeschichte" und einem "wichtigen Meilenstein zur Überwindung der Spaltung Europas" sprachen die Abgeordneten, für Franz Josef Jung (CDU) begann vor 25 Jahren "eine neue Ära in der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen". Polen und Deutsche hätten im vereinten Europa zu einer engen Partnerschaft gefunden, die auch in Formaten wie zum Beispiel dem Weimarer Dreieck ihren Ausdruck finde.

Thomas Nord, der die Deutsch-Polnische Parlamentariergruppe des Bundestages leitet, hob die Bedeutung der "konstruktiven Zusammenarbeit" zwischen beiden Ländern im Alltag der Menschen hervor. Manuel Sarrazin nannte Polen gar den " wichtigsten Partner Deutschlands" neben Frankreich und den USA. "Ohne Polen gibt es keine Zukunft in der europäischen Familie", stellte er klar. Mit Blick auf die angespannten politischen Beziehungen und das von der EU-Kommission gegen Polen angestrengte Rechtsstaatlichkeitsverfahren forderte Sarrazin alle Seiten auf, nicht nachzulassen "in dem Versuch, einander zu verstehen". Axel Schäfer (SPD) wollte zudem ein "Missverständnis" ausräumen: "Es geht in der Politik um Kritik an bestehenden Regelungen und bestehenden Regierungen. Das heißt aber nicht, dass wir ganze Völker oder unsere Zusammenarbeit kritisieren."