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BUNDESTAG : »Vor 75 Jahren brach die Hölle los«

Abgeordnete erinnern an die Opfer des deutschen Vernichtungsfeldzugs und kommen dabei immer wieder auf die aktuellen Spannungen zwischen Nato und Russland zurück

27.06.2016
2023-08-30T12:30:03.7200Z
4 Min

Die Zuschauer spüren: Hier hat jemand etwas klarzustellen. Die Hölle sei losgebrochen in jenen Morgenstunden des 22. Juni 1941, sagte Frank-Walter Steinmeier (SPD) am vergangenen Mittwoch, an dem die Abgeordneten im Bundestag des Überfalls des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion vor 75 Jahren in einer Vereinbarten Debatte gedachten. Millionen deutsche Soldaten, Hunderttausende Fahrzeuge und Pferde, Tausende Panzer, Flugzeuge und Geschütze seien auf Befehl Hitlers mit aller Kraft gen Osten geworfen worden. Mehr als 25 Millionen Menschen in der Sowjetunion, Weißrussen, Ukrainer, Russen und andere hätten in diesem Angriffskrieg ihr Leben verloren, sagte der Außenminister. "Das Ausmaß des Leidens ist nicht in Worte zu fassen."

Seine Warnung davor, mit "Säbelrasseln und Kriegsgeheul" die gegenwärtigen Spannungen zwischen Russland und der Nato weiter anzuheizen, hatten Steinmeier vergangene Woche viel Kritik des Koalitionspartners eingebracht. Im Bundestag bestand der Minister nun darauf, dass die Lehre aus der Geschichte von Deutschen und Russen im 20. Jahrhundert nicht heißen könne, "sich in einer endlosen Spirale der Eskalation" zu verlieren. Zu diesen Lehren gehöre die Bereitschaft auf allen Seiten, immer wieder Auswege aus der Konfrontation zu suchen, und zu diesen Lehren gehöre auch: "so viel Verteidigungsbereitschaft wie nötig, so viel Dialog und Zusammenarbeit wie möglich. Beide Säulen müssen stark sein", sagte Steinmeier. Man dürfe nicht zulassen, dass Vorurteile und Reflexe aus längst vergangenen Zeiten auferstehen. "Auch dazu brauchen wir den Dialog - nicht um Störendes zu übertünchen oder Widersprüche unter den Teppich zu kehren".

Bereits in seinen einleitenden Worten hatte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) zu Beginn der Debatte den Bogen vom Gedenken an einen "beispiellosen Vernichtungsfeldzug im Osten Europas, der in der menschenverachtenden nationalsozialistischen Rassenideologie wurzelte" zu den Lehren aus der "furchtbaren historischen Gewalterfahrung vor 1945" gezogen. Wenn heute an den deutschen Überfall auf die Sowjetunion erinnert werde, "bekräftigen wir unseren Willen, diesen Lehren einer Geschichte, für die unser Land mehr Verantwortung trägt als alle anderen, gerecht zu werden". Dazu gehöre, nirgends zu dulden, dass die Grundsätze von Frieden und Freiheit in Europa in Frage gestellt werden, sagte Lammert und erinnerte an die auch von Russland geteilten Grundsätze des KSZE-Prozesses - "darunter Gleichberechtigung und Selbstbestimmungsrecht der Völker, Unverletzlichkeit der Grenzen und territoriale Integrität der Staaten und friedliche Regelung von Streitfällen".

Gregor Gysi (Die Linke) warnte indes davor, die Erinnerung an deutsche Verbrechen für eine Kritik an der Annexion der Krim durch Russland und die russische Rolle im Ukraine-Konflikt zu instrumentalisieren. Das Erinnern an das unermessliche Leid des von den Nationalsozialisten als "Unternehmen Barbarossa" bezeichneten Vernichtungskrieges gegen Juden und "slawische Untermenschen" eigne sich "nun wahrlich nicht für eine Instrumentalisierung in Abhängigkeit von der Qualität der deutsch-russischen Beziehungen". Gysi warnte vor dem "Gebaren" der Nato mit Manövern und Verlegungen von Soldaten nahe der russischen Grenze. "Meinen Sie, es ist die richtige Symbolik, 75 Jahre nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion deutsche Soldaten an die russische Grenze zu entsenden?"

Jürgen Hardt (CDU) erinnerte an die "vielleicht tiefste und dunkelste Stunde der deutschen Geschichte". Jedes zweite Opfer des Zweiten Weltkrieges sei ein Bürger der Sowjetunion gewesen. "Wir können uns 75 Jahre danach vor den Opfern nur verneigen." Es sei "dem Volke der Sowjetunion" zu verdanken, dass es diesen Angriff zurückgeworfen und damit wesentlich dazu beitragen habe, Deutschland 1945 von der Nazidiktatur zu befreien. Für die Gegenwart erinnerte Hardt daran, dass gewaltsame Grenzverletzungen kein Mittel der Politik seien. "Leider hat Russland - konkret im Fall Ukraine, Krimbesetzung und Einmischung in der Ostukraine - gegen diesen Grundsatz verstoßen." Von einem "Säbelrasseln" der Nato als Antwort auf diesen Konflikt könne indes keine Rede sein, sondern von einer Rückversicherung der Bündnispartner, betonte Hardt. Die Hand des Verteidigungsbündnisses bleibe ausgetreckt mit dem Angebot, die Zusammenarbeit im Nato-Russland-Rat wieder aufzunehmen.

Marieluise Beck (Grüne) erinnerte daran, dass dem "erklärten Vernichtungsfeldzug" 1939 ein deutsch-sowjetischer Nichtangriffspakt vorausgegangenen war, dessen geheimes Zusatzprotokoll die Aufteilung Ost- und Mitteleuropas zwischen Berlin und Moskau vorwegnahm. Dieser Aspekt begründe auch heute noch die Empfindlichkeit osteuropäischer Staaten. Beck erinnerte zudem insbesondere an das Leid der rund fünf Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, denen - als "Untermenschen" entwürdigt - der Schutzstatus nach der Genfer Konvention versagt worden sei. Mehr als die Hälfte sei unter den KZ-ähnlichen Bedingungen in sogenannten "Russenlagern" in Gefangenschaft gestorben. "Es ist an der Zeit, dass das schwere Unrecht, das an diesen Kriegsgefangenen begangen wurde, von unserem Parlament als nationalsozialistisches Unrecht anerkannt wird", sagte Beck.