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TÜRKEI : Aspirant auf Abwegen

Opposition fordert härtere Gangart gegenüber Ankara. Die Koalition hält an EU-Beitrittsperspektive fest

14.11.2016
2023-08-30T12:30:09.7200Z
4 Min

Das Papier ist scharf formuliert wie wohl nie zuvor: Über einer "Beschneidung der Grundrechte" und "gravierende Rückschritte im Bereich der Meinungsfreiheit" in der Türkei ist im vergangene Woche vorgestellten "Fortschrittsbericht" der EU-Kommission zu den Beitrittsverhandlungen zu lesen, von "nicht mit europäischen Standards zu vereinbarenden" Gesetzesänderungen ist die Rede und von der Sorge über die sich häufenden Folter- und Misshandlungsvorwürfe in der Türkei. Das Land scheint sich unter der Führung des Präsidenten Recep Tayyip Erdogans insbesondere seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli dieses Jahres immer stärker von einer Beitrittsperspektive zu verabschieden. Die jüngsten Entwicklungen in der Türkei seien aus Brüsseler Sicht "zunehmend unvereinbar" mit dem offiziellen Beitrittswunsch, sagte der Erweiterungskommissar Johannes Hahn vergangene Woche. "Es ist an der Zeit, dass uns Ankara sagt, was sie wirklich wollen." Hahn machte zur Vorstellung des Berichts aber deutlich, dass die EU vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise auf eine enge Zusammenarbeit mit der Türkei angewiesen sei.

In einer Vereinbarten Debatte im Bundestag zur Lage in der Türkei sprachen Vertreter der Opposition vergangenen Donnerstag von "Appeasement" und einer politischen Erpressung der EU durch Erdogan: Vertreter von Linke und Grünen forderten angesichts der neuerlichen Verhaftungswelle in der Türkei eine härtere Gangart gegenüber der Führung in Ankara - und auf der anderen Seite mehr Unterstützung für die bedrängte Zivilgesellschaft. Vertreter der Koalition plädierten dafür, den Dialog und die EU-Beitrittsverhandlungen dennoch nicht auf Eis zu legen.

Appell Konsens bestand in der Verurteilung jeglicher politischer Verfolgung beim Nato-Bündnispartner am Bosporus: Bereits am Donnerstagmorgen hatte Parlamentspräsident Norbert Lammert (CDU) vor Eintritt in die Tagesordnung die Solidarität "mit allen aus politischen Gründen verhafteten Parlamentariern, Journalisten, Wissenschaftlern und Beamten" in der Türkei erklärt: "Wir appellieren an das türkische Parlament, seine Verantwortung als Volksvertretung wahrzunehmen, damit die Türkei zu dem demokratischen Standard zurückfindet, zu dem sie sich als Mitglied des Europarats ausdrücklich verpflichtet hat."

Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) kündigte in der Vereinbarten Debatte an, erstmals seit dem gescheiterten Putschversuch gegen Präsident Erdogan im Juli wieder zu Gesprächen nach Ankara zu reisen. "Wir müssen fragen, ob das Vorgehen der türkischen Regierung mit den Mindeststandards rechtsstaatlicher Verfahren vereinbar ist", sagte Steinmeier. Klar sei aber auch: Man bekomme als Politiker derzeit am leichtesten Beifall hierzulande, wenn man den "Abbruch aller Gespräche" fordere. "Die Frage ist nur: Ist das klug? Sollten wirklich wir diejenigen sein, die jetzt die Tür zuwerfen?" Das Land stehe an einer Wegscheide. "Es geht um die Richtung des Landes: entweder hin nach Europa oder weg von Europa, hin zu einer verfassten Demokratie, inklusive einer respektierten parlamentarischen Opposition, oder weg von ihr", sagte Steinmeier. Es brauche nun das klare Signal, dass man für die europäische Bindung der Türkei stehe. "Wir brauchen diese europäische Bindung auch." Sie liege zudem im Interesse der Türkei, sagte Steinmeier, zog aber auch eine rote Linie: "Wenn die Türkei die Todesstrafe wieder einführen sollte, ist das unmissverständlich das Ende der Verhandlungen, das Ende der Beitrittsgespräche."

Dietmar Bartsch (Die Linke) warf der Bundesregierung vor, "Appeasement-Politik" gegenüber Ankara zu betreiben, um das EU-Türkei-Abkommen zur Rückführung von Flüchtlingen nicht zu gefährden. Die Bundesregierung signalisiere dem türkischen Präsidenten, dass man auf ihn angewiesen sei - das führe dazu, dass Erdogan glaube, er könne sich alles erlauben. Nach dem Putschversuch im Juli seien 130.000 Beamte, Lehrer, Wissenschaftler, Journalisten und Polizisten entlassen worden, es gebe 30.000 Inhaftierte, mehr als hundert Zeitungen, Radio- und TV-Sender seien verboten worden. Abgeordnete der Oppositionspartei HDP seien verhaftet und sämtliche Abgeordnete der CHP von Erdogan angezeigt worden, weil sie sich dagegen gestellt hätten. Angesichts dieser Entwicklung müssten Beitrittsverhandlungen gestoppt und der "menschenunwürdige Flüchtlingsdeal" aufgekündigt werden, forderte Bartsch.

Claudia Roth (Grüne) nannte Erdogans Politik einen "Gegenputsch von oben". Der türkische Präsident spalte, eskaliere und verbreite Angst und Schrecken in seinem Land und verfolge zudem einen "brandgefährlichen, aggressiven Expansionskurs" im Norden des Iraks. Erdogan erweise sich mehr und mehr als "Totengräber von Demokratie und Rechtsstaat in der Türkei". Roth forderte, das EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen zu beenden, "weil Erdogan uns damit vorführt, uns erpressbar macht". Das bedeute aber auch: "Unterstützung für die Millionen Flüchtlinge in der Türkei und Unterstützung für Griechenland, das mit der Herausforderung doch schon heute völlig überfordert ist", sagte Roth. "Wir brauchen endlich eine solidarische EU-Flüchtlingspolitik, die nicht auf Abschottung, sondern auf humanitäre Schutzverantwortung setzt."

Positive Agenda Franz-Josef Jung (CDU) verurteilte wie auch Außenminister Steinmeier den Putschversuch gegen Erdogan im Juli scharf: "Bombenangriffe auf ein Parlament sind nicht akzeptabel. Aber auch das Ausmaß der Säuberungen und der Repressalien nach dem Putsch hat nichts mit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- und Pressefreiheit zu tun." Jung sprach sich gegen ein Stopp der Beitrittsverhandlungen aus. Es wäre nicht richtig, "den Dialog, der notwendiger denn je ist, jetzt zu unterbrechen". Der türkische Außenminister habe den Wunsch geäußert, "mit Europa wieder zu der positiven Agenda zurückkehren". Die türkische Führung müsse aber daran erinnert werden, dass sie "zuerst zu den Werten Europas zurückkehren muss, bevor wir diese Agenda wieder aufnehmen können". Wenn der türkische Präsident und das Parlament die Todesstrafe wieder einführen sollten, "dann bleibt uns keine Wahl", schloss Jung: Dann müsste der Beitrittsprozess ebenso ausgesetzt werden wie die Mitgliedschaft der Türkei im Europarat.