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CHRONIK : London löst die Leinen

Die Beziehungen zwischen EU und Großbritannien waren immer komplizierter als bei anderen Mitgliedern

03.04.2017
2023-08-30T12:32:19.7200Z
3 Min

Halb draußen, halb drinnen, in freundlicher Distanz, aber stets pragmatisch, wenn es um den gemeinsamen Markt geht: Die Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien kennen viele Aggregatzustände. Ganz am Anfang, ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, war es eine noch flüchtige Vision, für die sich ausgerechnet der "Kriegspremier" Winston Churchil ins Zeug legte. "Eine Art Vereinigte Staaten von Europa" müsse man errichten und eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland solle der Grundstein sein. Als Teil dieses Vereinten Europas sah Churchill sein Land freilich nicht. Ein befriedeter Kontinent, mit dem sich Handel betreiben lässt, war auch für das Königreich das Beste.

Und doch hinterlegte London in den 1960er Jahren zwei Mal ein Beitrittsgesuch bei der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), wurde allerdings wegen das langjährigen Widerstands des französischen Präsidenten Charles de Gaulle erst 1973 Teil der Europäischen Gemeinschaft (EG). Ausschlaggebend waren wirtschaftliche Gründe: Das ehemalige Empire hatte seinen weltpolitischen Abstieg schlecht verkraftet, London galt als "kranker Mann" Europas und drohte den Anschluss an die Entwicklung auf dem Kontinent zu verlieren. 1975 sprachen sich 67 Prozent der britischen Wähler in einem Referendum für die EG-Mitgliedschaft aus. 1984 richtete allerdings die konservative Premierministerin Margaret Thatcher die Botschaft an Brüssel, dass sie "ihr" Geld wiederhaben wolle ("I want my money back!"). Die Briten mit ihrem recht kleinen Anteil an der landwirtschaftlichen Produktion sahen sich bei der Verteilung von EG-Geldern benachteiligt, bei denen es damals in der Masse um Hilfen für die Landwirtschaft ging, und handelten einen Rabatt für die britischen Beiträge aus.

Die Prioritäten der Londoner Regierung in der Gemeinschaft waren seither berechenbar, und zwar unabhängig davon, ob nun Labour oder die Tories am Ruder waren: Vertiefung des EU-Binnenmarkts und Freihandelsabkommen mit Drittstaaten - das ging und geht immer. In anderen Bereichen pochte London auf Souveränität. Berühmt ist etwa Thatchers vehementer Widerspruch gegen die Weichenstellungen zu einer politischen Union, wie sie vor allem der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), Frankreichs Präsident François Mitterrand und der EWG-Kommissionspräsidenten Jacques Delors seit den späten 1980ern vorantrieben: "No! No! No!", blaffte Thatcher im britischen Unterhaus.

Den Vertrag von Maastricht (1992), der die EG zur EU machte und dessen Ratifizierung Thatchers Nachfolger John Major innenpolitisch nur mit Mühe durchbringen konnte, sah für Großbritannien sogenannte "Opt-Out"-Regeln vor: London unterschrieb weder das Sozialprotokoll, noch wollte es automatisch Mitglied der Euro-Zone werden. Von Labour-Premier Tony Blairs Plänen für ein Referendum über einen Euro-Beitritt wollte sein Schatzkanzler und schließlich Nachfolger Gordon Brown nichts mehr wissen.

David Cameron, der 2010 gewählte konservative Premier, sah sich mit einer wachsenden Stimmung auf der Insel für einen EU-Austritt konfrontiert. Er stellte ein Referendum in Aussicht, versuchte aber zuvor noch durch Verhandlungen über EU-Reformen "Brexit"-Befürwortern Wind aus den Segeln zu nehmen. Bürokratieabbau, ein Diskriminierungsverbot von Nicht-Euro-Ländern in der EU und wieder eine Ausnahme für Großbritannien, für das das Ziel einer "immer engeren Union" nicht gelten sollte - mit diesen Verhandlungserfolgen konnte Cameron vom EU-Gipfel im Februar 2016 nach Hause kommen. Und mit dem Versprechen, die Einwanderung von EU-Ausländern zu verringern, für die sich Großbritannien eigentlich immer ins Zeug gelegt und von der es profitiert hat.

Den EU-Skeptikern auf der Insel ging das alles nicht weit genug, der Ausgang ist bekannt: Eine Mehrheit von 51,9 Prozent der Wähler stimmten beim "Brexit"-Referendum im Juni 2016 dafür, die Leinen vom EU-Kontinent zu lösen.