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GESCHICHTE : Marx im Silicon Valley

Die Angst vor der »menschenleeren Fabrik« ist so alt wie die Fabrik selbst

18.04.2017
2023-08-30T12:32:19.7200Z
7 Min

Für die einen ist es ein Albtraum, für die anderen Utopie: 1946 beschrieb das US-Magazin "Fortune" die "menschenleere Fabrik" als Verheißung einer Zukunft, in der die Automaten die Arbeit verrichten. Im damals aufziehenden Zeitalter der Kybernetik träumte man von der automatisierten Fabrik, in der der Mensch als Störfaktor nicht mehr vorkommt: Der Betrieb wird zur "Anlage, die man durch einen Knopfdruck anlässt, die dann mit höchstem Wirkungsgrad ganz ohne menschliches Zutun weiterläuft, bis sie durch einen anderen Knopfdruck abgestellt wird" wie es die Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure im Jahre 1956 beschreibt.

Die "menschenleere Fabrik" liefert ein Urbild für die Erwartungen und Ängste, die sich mit technischem Fortschritt und Automatisierung seit Beginn der industriellen Revolution verbinden. Entweder beflügelt die Maschine die Phantasien für eine Zukunft, die den Menschen von der Geißel gefahrvoller, kräftezehrender, monotoner Arbeit befreit - oder aber die Maschine wird den Zeitgenossen unheimlich, weil sie vor Augen führt, dass sie ebenbürtig oder gar überlegen sein könnte. Der tätige Mensch könnte verdrängt, seiner Existenzsicherung und der identitätsstiftenden Kraft der Arbeit beraubt werden. "Was uns heute bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, als die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht", schreibt die Philosophin Hannah Arendt im Jahre 1958. "Was könnte verhängnisvoller sein?"

Produktivität Doch weder für euphorische Erwartungen noch für apokalyptische Vision gibt es Anlass, sobald man auf zweieinhalb Jahrhunderte der Industrialisierung zurückschaut: Weder haben die Maschinen die Herrschaft übernommen, noch haben sie menschliche Arbeit an sich ersetzt. Die Arbeitswelt hat sich grundlegend verändert, Fertigungstechniken, Aufgabenprofile und Berufe verschwanden, neue und andere kamen hinzu, es gab beispiellose Erfindungen und technische Fortschritte - vor allem aber einen in der Menschheitsgeschichte wohl einmaligen Zuwachs an Produktivität, Wertschöpfung und (global bis heute allerdings sehr einseitig verteilten) Wohlstand.

Der technische Fortschritt hat dem Menschen die Arbeit nicht genommen, diese aber grundlegend verändert. In der von den "entfesselten Produktivkräften" (Karl Marx) in Gang gesetzten und in Schwung gehaltenen Industrialisierung gab es immer wieder Gewinner - und Verlierer: Unter die Räder gerieten und geraten ganze Berufsgruppen immer dann, wenn ihre Qualifikationen den durch die neue Techniken veränderten Anforderungen nicht mehr entsprachen oder entsprechen.

Das lässt sich bereits in den Anfängen der Industriellen Revolution, in deren Epizentrum im Nordwesten Englands der 1760er Jahre, beobachten: James Hargreaves, der Erfinder der Spinnmaschine "Spinning Jenny" sah sich gezwungen, vor aufgebrachten Textilarbeitern aus Blackburn nach Nottingham zu fliehen. "Spinning Jenny" konnte gleichzeitig acht, 16 oder gar 20 Fäden produzieren. Vollkommen zu Recht erkannten einige Textilarbeiter darin eine Konkurrenz, der sie in ihrer Heimarbeit nicht gewachsen waren. Das galt dann später erst recht für den "Power Loom" ("Kraftstuhl"), die mechanische Webmaschine, an der ein Arbeiter plötzlich mit Verstärkung von Wasserkraft oder Dampfmaschinen ein Vielfaches an Baumwollstoff herstellen konnte.

Maschinenstürmer Die Maschinen entzogen den Heimarbeitern ihre Lebensgrundlage - sie konnte mit der wachsenden und billigeren Konkurrenz der Fabrikerzeugnisse nicht mithalten. Das blieb natürlich nicht ohne Folgen: In England, später auch in Deutschland, stiegen Arbeiter aus einst angesehenen und privilegierten Berufen - Tuchscherer, Baumwollweber, Strumpfwirker - auf die Barrikaden, ihre Zerstörungswut richtete sich zuweilen auch ganz gezielt gegen Maschinen: 1811 und 1812 kam es zu einem regelrechten Aufstand der "Luddisten" in Nottingham, den London mit 12.000 Soldaten niederschlagen ließ. Die Zerstörung von Webstühlen wurde fortan unter Todesstrafe gestellt.

Die Nationalökonomen und Philosophen des 19. Jahrhundert erkannten in Erfindungen wie der "Spinning Jenny" und Webmaschine einen Epochenwechsel. Menschliche Arbeit wurde nunmehr systematisch durch Technik ergänzt und verstärkt. Bei gleichem oder niedrigerem Einsatz von Muskelkraft, Geschick und Arbeitszeit ließen sich mehr Ware in gleichmäßigerer Qualität produzieren. Produktivitätssprünge wie diese sorgten für ein exponentielles Wachstum - und das bedeutete, dass es eben nicht mehr um ein merkantiles Mehr vom Gleichen ging. Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter brachte das mit einem berühmt geworden Satz auf den Punkt: "Man kann beliebig viele Postkutschen aneinanderreihen - und trotzdem wird daraus niemals eine Eisenbahn."

Boom folgt Boom Wohl noch nie in der Menschheitsgeschichte ließ sich so viel Reichtum, wirtschaftliche Macht und potentiell auch Wohlstand anhäufen wie seit dem Beginn der Industrialisierung - ermöglicht durch immer kühnere Produktivitätssprünge, die sich zudem auch noch von einem Sektor auf den anderen übertrugen: Auf den Boom der Textilindustrie, die nach immer mehr Dampfmaschinen fragte, folgte der Boom der Metall- und Maschinenbauindustrie, die mit ihrem Bedarf an Eisen und Kohle wiederum die Bergbauindustrie befeuerte. Mit der Verbreitung der Eisenbahn verbilligten sich die Transporte, dies wiederum machte die Ansiedlung von Industrien unabhängiger von örtlichen Vorkommen an Bodenschätzen. Zeitversetzt folgten im 19. Jahrhundert Chemie- und Elektroindustrie, im 20. Jahrhundert schließlich Elektronik-, die Computerindustrie, heute die digitale Durchdringung sämtlicher Industrien. Marx schrieb begeistert, die "Bourgeois-Epoche" sei eine "fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung der gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung".

Die Industrialisierung hatte dem Verlagssystem und der Heimarbeit die Grundlage entzogen, zugleich entfesselte sie eine nicht gekannte Produktivität und Effizienz, einen wechselseitig sich verstärkenden Prozess aus märchenhafter Kapitalanhäufung, Innovation und Investition. Im Jahre 1760 wurden in England 1.300 Tonnen Baumwolle produziert, im Jahre 1860 waren es 190.000 Tonnen. Der einstige Knecht, Bauer, Heimarbeiter, Handwerker fand sich nunmehr als Lohnarbeiter in den Fabriken wieder, es kam zu einer grundlegenden Mobilisierung vom Land in Richtung Stadt während die Landwirtschaft ihrerseits industrieller wurde - also auf weniger menschliche Arbeitskraft angewiesen war.

Konzentration Das Bild des "Manchesterkapitalismus" mit seinen Heerscharen von verarmten Lohn- und Kinderarbeitern, die in lichtlosen Mietskasernen unter unwürdigsten Bedingungen hausen, so, wie es Friedrich Engels in seiner "Lage der arbeitenden Klasse in England" 1845 eindringlich beschrieb, ist dabei kein Widerspruch zur Geschichte des Kapitalismus als Wertschöpfungsmaschine: Die unhaltbaren Zustände des Alltags weiter Teile der Bevölkerung waren auch Ursache fehlender Umverteilung und einer hohen Konzentration von Kapital und wirtschaftlicher Macht in den Händen weniger. Man würde heute wohl von einem schwachen oder abwesenden (Sozial-)Staat sprechen. Der Ertrag aus industrieller Arbeit wuchs und wuchs, doch erst im Laufe des 19. Jahrhunderts bildeten sich in Europa die ersten staatlichen Instrumente zur Umverteilung und zur sozialen Absicherung der Lohnarbeit.

Takt des Fließbands Im frühen 20. Jahrhundert sind es dann die Menschen selbst, die "mechanisiert" werden sollen. Im Modell des "Fordismus" - benannt nach dem US-Automobilproduzenten Henry Ford - wird die Massenproduktion standardisiert: Produktionsschritte werden in kleinste Einheiten zerlegt, Bewegungsabläufe nach Kriterien von Zeit und Energieeinsatz optimiert, die Arbeitsteilung hochgradig ausdifferenziert. Der einzelne Arbeiter fügt sich dem Takt des Fließbands, seine Tätigkeit beschränkt sich auf immer gleiche Bewegung, obendrein lässt die Muffe, deren Gewinde er den ganzen Tag schneidet, wenig vom Endprodukt erahnen. Der Mensch wird zum Rädchen einer Fabrik und muss zusehen, nicht von größeren Rädern zermahlen zu werden - Charlie Chaplin hat in seinem Film "Modern Times" diesen beunruhigenden Aussichten industrieller Machbarkeiten ein filmisches Denkmal gesetzt.

Wie bei allen technischen Fortschrittsschüben waren andererseits auch die Hoffnungen groß. Ford selbst glaubte mit seiner "wissenschaftlichen" Fließbandoptimierung einen "dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Sozialismus weisen zu können. Berühmt dafür ist das Ford Modell T, das erste "totalstandardisierte Auto" aus "serieller Fließbandproduktion" und vor dem VW Käfer das meistverkaufte Auto der Welt. In den dermaßen auf Produktivität getrimmten Werken konnte Ford den Arbeitern zunächst mehr Lohn bieten als die Konkurrenz, mit dem Acht-Stunden-Tag erfüllte er eine alte Forderung der Arbeiterbewegung. Obendrein verhieß das unschlagbar preiswerte Modell T die Aussicht, dass auch der Arbeiter am Ford-Fließband an den Errungenschaften des Industriezeitalter teilhaben könne: Das Auto für jedermann - für Ford die Aussöhnung von Kapital und Lohnarbeit, in jedem Fall aber Grundlage einer durch Massennachfrage in Schwung gehaltenen Konsumökonomie des "American Way of Life" im 20. Jahrhundert.

Facharbeiter-Dämmerung In den 1970er Jahren wiederum stand die Befreiung vom Takt der Produktionsstraße im Vordergrund: Die Automatisierung weist dem Menschen Steuerungsaufgaben zu, die kräftezehrende oder monotone Arbeit übernehmen die Maschinen. Mit Ölkrise und steigenden Arbeitslosenzahlen geht zudem wieder das Gespenst der "technologischen Arbeitslosigkeit" um. "Die Computer-Revolution: Fortschritt macht arbeitslos" titelte das Magazin "Der Spiegel" im Jahre 1978 und zeigte dazu einen Facharbeiter, der von einem Roboter quasi am Schlafittchen des Blaumanns aus der Fabrikhalle hinausgeworfen wird.

Auch heute wird im Zeichen von Digitalisierung und Industrie 4.0 über die Folgen einer womöglich "menschenleeren Fabrik" diskutiert. Der Soziologe und Ökonom Jeremy Rifkin sprach 1995 vom "Ende der Arbeit". Der Physiker Stephen Hawking und Industrielle aus den Digital-Schmieden der amerikanischen Westküste wie Bill Gates und Elon Musk fordern entweder ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle und/oder die Besteuerung maschineller Arbeit statt der menschlichen.

Wieder einmal ist die Diskussion damit zurückgeworfen auf einen Punkt, den bereits Marx im 19. Jahrhundert erörtert hatte, nämlich der Frage "ob alle Maschinerie, die Arbeiter verdrängt, stets gleichzeitig und notwendig ein adäquates Kapital zur Beschäftigung derselben identischen Arbeiter freisetzt".