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KONTINUITÄTSPRINZIP : In Stein gemeißelt

Mit der Konstituierung des neuen Bundestages endet die Amtszeit der Regierung. Angela Merkel bleibt trotzdem Kanzlerin

16.10.2017
2023-08-30T12:32:28.7200Z
5 Min

Mit dem heutigen Abend endet die Zusammenarbeit mit der CDU/CSU in der Großen Koalition." Mit diesen deutlichen Worten reagierte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz am Abend des 24. Septembers auf das desaströsen Abschneiden seiner Partei bei der Bundestagswahl. Doch ganz so einfach und eindeutig wie der Satz klingt, gestaltet sich die Sache nicht. Zumindest die sozialdemokratischen Minister im Kabinett von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) könnten noch deutlich länger zur Zusammenarbeit verpflichtet werden als ihnen lieb ist.

Mit der konstituierenden Sitzung des 19. Deutschen Bundestages am 24. Oktober endet gemäß Artikel 69 zwar die Amtszeit von Kanzlerin Merkel und ihrer Minister. Allerdings ist Merkel laut Verfassung verpflichtet, ihre Amtsgeschäfte auf Ersuchen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) so lange weiterzuführen bis der Bundestag Merkel erneut oder einen anderen Kandidaten zum Kanzler wählt. Auch die Minister müssen auf Ersuchen des Bundespräsidenten oder des Kanzlers geschäftsführend im Amt bleiben. Dieses Kontinuitätsprinzip soll sicherstellen, dass Deutschland bis zur Bildung einer neuen Regierung politisch handlungsfähig bleibt.

Bundeskanzlerin Merkel zeigte sich nach der Absage der SPD an weitere vier Jahre Große Koalition zwar optimistisch, bis Weihnachten die Verhandlungen zwischen CDU und CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen zur Bildung einer sogenannten Jamaika-Koalition erfolgreich abschließen zu können. Doch bislang ist nicht einmal gesichert, ob sich dieses schwierige Regierungsbündnis überhaupt schmieden lässt. In dieser Woche treffen sich die Verhandlungsteams der Parteien erstmals zu Sondierungsgesprächen, um auszuloten, ob Koalitionsverhandlungen überhaupt Sinn machen.

Sollte die Jamaika-Koalition nicht zustande kommen und die SPD auf ihrem Nein zur Großen Koalition beharren, bliebe nur die Bildung einer tolerierten Minderheitenregierung oder Neuwahlen. Im Falle von Neuwahlen würde die geschäftsführende Regierung auch noch nach dem Jahreswechsel 2017/18 im Amt sein - und damit so lange wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik.

Das Grundgesetz macht keine Vorgaben, bis wann ein Kanzler nach einer Bundestagswahl gewählt und eine Regierung gebildet werden muss. Bei überlangen Koalitionsverhandlungen wäre Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gefragt. Er könnte die Hängepartie beenden, indem er dem Bundestag einen Kandidaten zur Kanzlerwahl vorschlägt (siehe Artikel unten). Eine Situation wie in den Niederlanden, wo die Regierungsbildung nach den Parlamentswahlen im März dieses Jahres sich über 200 Tage hinzog, ist in Deutschland nicht zu erwarten - rechtlich ausgeschlossen ist sie jedoch nicht.

Prinzipiell verfügt eine geschäftsführende Regierung über die gleichen Rechte wie eine regulär gebildete und ist damit zumindest formal voll handlungsfähig. Sie kann Gesetzesvorlagen oder den Bundeshaushalt in die parlamentarische Beratung einbringen, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften erlassen. Ebenso gilt weiterhin die in Artikel 65 Grundgesetz formulierte Richtlinienkompetenz des Kanzlers sowie das Ressort- und Kollegialitätsprinzip innerhalb des Kabinetts. Einige Staatsrechtler verweisen jedoch darauf, dass der Übergangscharakter einer geschäftsführenden Regierung ein hohes Maß an politischer Zurückhaltung gebiete - vor allem in der Außenpolitik.

Eingeschränkt ist Angela Merkel als Kanzlerin einer geschäftsführenden Regierung in Personalfragen. Frei werdende Kabinettsposten darf sie nur an amtierende Minister vergeben. Eine Kabinettsumbildung durch Ernennung neuer Minister sieht das sogenannte Versteinerungsprinzip nicht vor. Lediglich die Entlassung amtierender Minister ist möglich. So soll etwa Peter Altmaier (CDU), Chef des Bundeskanzleramtes und Bundesminister für besondere Aufgaben, zugleich die Leitung des Finanzministeriums von Wolfgang Schäuble übernehmen, da dieser neuer Bundestagspräsident werden soll. Unklar ist bislang, wer die Leitung des Bundesverkehrsministerium übernimmt, wenn Alexander Dobrindt (CSU) mit dem Beginn der neuen Legislaturperiode vom Ministersessel auf den des CSU-Landesgruppenchefs im Bundestag wechselt. Nach der Logik der Machtverteilung im Kabinett wird Merkel wohl entweder Landwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) oder Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) mit der Aufgabe betrauen.

Ausgeschieden aus dem Kabinett ist bereits Arbeitsministerin Andrea Nahles, die den SPD-Fraktionsvorsitz übernimmt. Geleitet wird das Ministerium für Arbeit und Soziales seitdem von Familienministerin Katarina Barley (SPD). Nahles macht nach ihrem Ausscheiden aus der Regierung mit dem misslungenen Scherz, ab morgen bekämen die ehemaligen Kabinetts-Kollegen der Union "in die Fresse", deutlich, dass für sie die Zeit als Oppositionspolitikerin begonnen hat.

Die im Kabinett verbleibenden Sozialdemokraten werden sich diese Freiheit so schnell nicht nehmen können. Denn ganz gleich, ob und wann die Verhandlungen zur Bildung einer Jamaika-Koalition von Erfolg gekrönt sein werden, spätestens im Dezember steht die Bundesregierung ausgerechnet vor außenpolitischen Entscheidungen, die nicht verschoben werden können. So laufen Ende des Jahres die Mandate von fünf Auslandseinsätzen der Bundeswehr aus, die verlängert werden müssten. Neben der Seeraumüberwachung der Nato im Mittelmeer und den Beobachtermissionen der Vereinten Nationen im Sudan und im Süd-Sudan stehen vor allem der Afghanistan-Einsatz und der Tornado-Einsatz gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) im Irak auf der Tagesordnung. Damit nicht genug, laufen Ende Januar 2018 zudem die Mandate der Mission in Mali und der Ausbildungsunterstützung für die kurdischen Peschmerga im Nord-Irak aus.

Vor allem die Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes und die Unterstützung der Peschmerga birgt politischen Sprengstoff. So fordert die Bundeswehrführung nach Medienberichten aufgrund der sich verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan eine Vergrößerung des deutschen Kontingents von derzeit 980 auf 1.400 Soldaten. Laut "Spiegel Online" habe dies Bundesaußenminister Siegmar Gabriel (SPD) kurz vor der Bundestagswahl jedoch "kategorisch" abgelehnt. Auch das Unabhängigkeitsreferendum der Kurden im Nord-Irak bringt die Bundesregierung in Bedrängnis. Eine Fortsetzung der Militärhilfe für Peschmerga wäre im Falle einer Unabhängigkeitserklärung der bislang autonomen Region Kurdistan nicht möglich und würde den bisherigen Einsatz der Bundeswehr in einem deutlich anderen Licht erscheinen lassen.

Auch die Koalitionsverhandlungen könnten durch Mandatsverlängerungen belastet werden. So hatten vor einem Jahr die Grünen den Anti-IS-Einsatz der Bundeswehr im Irak abgelehnt. Nach Berichten von "Bild-Online" soll es zwischen der Union und den Grünen bereits zu einer geheimen Vereinbarung gekommen sein. So sollen die strittigen Einsätze vorerst unverändert nur für drei Monate durch den Bundestag verlängert werden. Die Grünen wären damit frei in der Abstimmung, da eine Zustimmung der SPD als gesichert gilt. Nach der Regierungsbildung soll dann grundlegend über eine Neufassung der Mandate verhandelt werden.