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BUNDESPRÄSIDENT : Notfalls entscheidet der Erste Mann im Staat

Das Grundgesetz weist Frank-Walter Steinmeier im Fall einer gescheiterten Regierungsbildung eine machtvolle Position zu

16.10.2017
2023-08-30T12:32:28.7200Z
3 Min

Die Situation erinnert an jene vor vier Jahren. Am Wahlabend verloren Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die beiden Unionspartien den Koalitionspartner. 2013 scheiterte die FDP bei der Bundestagswahl an der Fünf-Prozent-Hürde und verpasste den Wiedereinzug in den Bundestag. Diesmal ist es die SPD, die sich einer Fortsetzung der Koalition entzieht.

Ob es zur Bildung der anvisierten Jamaika-Koalition kommt, ist derzeit noch offen. Und auch 2013 war die Bildung der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD kein Selbstläufer. Viele Sozialdemokraten scheuten das Bündnis mit Merkels Union. Entsprechend lang zogen sich die Koalitionsverhandlungen hin - mit 86 Tagen waren es die bislang längsten. Dieser Wert könnte diesmal sogar noch übertroffen werden.

Beide Bundestagswahlen weisen eine weitere Gemeinsamkeit auf. Sowohl 2013 wie auch jetzt sitzt auf dem Stuhl des Bundespräsidenten, dem bei der Kanzlerwahl eine entscheidende Rolle zukommt, ein Mann, den die Kanzlerin dort ursprünglich nicht platziert sehen wollte: Vor vier Jahren war es der parteilose Joachim Gauck, jetzt ist es der Sozialdemokrat Frank-Walter Steinmeier. In beiden Fällen war ihre Wahl zum Bundespräsidenten die Folge von Merkels Unvermögen, einen eigenen mehrheitsfähigen Kandidaten für das höchste Amt im Staat zu präsentieren.

Gemäß Artikel 63 Grundgesetz wählt der Bundestag den Kanzler auf Vorschlag des Bundespräsidenten. Wen er zur Wahl vorschlägt, steht ihm rechtlich frei. In der Praxis schlägt der Bundespräsident jenen Kandidaten vor, der die größte Aussicht auf die absolute Mehrheit hat: Im ersten Wahlgang ist der Vorgeschlagene gewählt, wenn er die Mehrheit der Stimmen aller Abgeordneten erhält. Der Bundespräsident muss ihn dann zum Kanzler ernennen. Steinmeier wird also mit seinem Wahlvorschlag warten, bis sich CDU und CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf eine Koalition geeinigt haben. Sollte dies jedoch nicht gelingen und sich die SPD weiterhin einer Koalition verschließen, dann wird Steinmeier das Heft des Handelns in die Hand nehmen müssen und dem Bundestag trotzdem einen Kandidaten zur Wahl vorschlagen. Diesen Weg könnte er auch bestreiten, wenn die Koalitionsverhandlungen nach seinem Dafürhalten zu lange dauern. Das Grundgesetz macht dem Bundespräsidenten dabei keine Vorgaben.

Sollte der vorgeschlagene Kandidat im ersten und einem sich innerhalb von 14 Tagen anschließenden zweiten Wahlgang nicht die benötigte Mehrheit bekommen, würde in einem dritten Wahlgang lediglich die Mehrheit der abgegebenen Stimmen reichen (einfache Mehrheit), um vom Bundespräsidenten zum Kanzler einer Minderheitenregierung ernannt zu werden. Allerdings hätte Steinmeier auch die Möglichkeit, die Ernennung zu verweigern und den Bundestag aufzulösen, um Neuwahlen herbeizuführen. Verfassungsrechtlich ist in diesem Fall diese Vorgehensweise auch der einzige Weg, Neuwahlen herbeizuführen. Denn der Bundeskanzler einer geschäftsführenden Regierung kann nicht wie sonst nach Artikel 67 Grundgesetz die Vertrauensfrage im Parlament stellen und bei einem - eventuell absichtlich herbeigeführten - Scheitern den Bundespräsidenten um die Auflösung des Parlaments bitten.

In der Geschichte der Bundesrepublik musste bislang von der Möglichkeit einer Kanzlerwahl mit einfacher Mehrheit oder von der Auflösung des Bundestages nach einem dritten Wahlgang nie Gebrauch gemacht werden. Minderheitenregierungen sind in Deutschland als instabil verrufen. Und Neuwahlen bergen für alle Parteien unkalkulierbare Risiken und würden der Politikverdrossenheit vieler Bürger wahrscheinlich weiteren Auftrieb verleihen. Zumindest diese beiden Gründe sprechen für die Bildung einer Jamaika-Koalition.

Die im Grundgesetz bei der Kanzlerwahl angelegte Machtfülle des im politischen Alltagsgeschäft eher machtlosen Bundespräsidenten ist gewollt. Er fungiert quasi als verfassungsrechtlicher Notnagel, um Deutschland vor instabilen Verhältnissen ohne handlungsfähige Regierung zu bewahren.

Vor diesem Hintergrund wird um so verständlicher, warum die Wahl des Bundespräsidenten, der ansonsten eher als moralische Instanz fungiert, in der Vergangenheit so oft parteipolitisch umkämpft war. Er hat sein Amt zwar parteipolitisch neutral und gemäß seines Amtseides "zum Wohl des deutschen Volkes" auszuüben, doch notfalls fungiert er schlicht und ergreifend als Kanzlermacher.