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Politik und justiz : Im permanenten Spannungsfeld

Richterentscheidungen haben immer wieder Kritik ausgelöst. Manchmal sabotieren Minister auch Urteile

01.10.2018
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8 Min

Es waren wohl andere Zeiten damals. Als noch ein beherzter Umgangston herrschte und in Bonn von den "Arschlöchern in Karlsruhe" die Rede war. Verbunden mit dem grollenden Hinweis, man lasse sich von denen nicht "unsere Politik" kaputtmachen. Gemeint war der Grundlagenvertrag mit der DDR, über den das Bundesverfassungsgericht nach einer Klage der bayerischen Staatsregierung 1973 zu urteilen hatte, und bis heute umstritten ist, welcher SPD-Grande sich darüber dermaßen erregte, Herbert Wehner oder Horst Ehmke. Wie dem auch sei, der Satz ist längst in den Zitatenschatz der Republik eingegangen. Hat sich jemals seither ein Politiker abfälliger über die Dritte Gewalt geäußert?

Insofern stellt sich die Frage, ob Nordrhein-Westfalens oberste Verwaltungsrichterin Ricarda Brandts nicht von ihrem Langzeitgedächtnis im Stich gelassen wurde, als sie kürzlich eine neue, nie dagewesene Eskalationsstufe im Konfliktverhältnis zwischen Politik und Justiz diagnostizierte. Zuvor hatte die Landesregierung bei der Abschiebung des tunesischen Islamisten Sami A. das Gelsenkirchener Verwaltungsgericht ausgetrickst.

Dieses hatte mehrfach geurteilt, der Mann müsse in Deutschland bleiben, solange nicht feststehe, dass ihm in der Heimat keine Folter drohe, zuletzt am 12. Juli. Dass Sami A. bereits am nächsten Morgen im Flugzeug nach Tunis sitzen sollte, wussten die Richter zu diesem Zeitpunkt nicht, denn wohlweislich hatte es ihnen niemand verraten. "Der Fall hat einen außergewöhnlichen sicherheitsstrategischen und politischen Stellenwert. Diese Besonderheiten lassen es leider nicht zu, dass der Betroffene oder das Gericht über die Rückführung informiert werden", hatte das Integrationsministerium in Düsseldorf die zuständige Ausländerbehörde in Bochum angewiesen.

Als dann einen Monat später das nordrhein-westfälische Oberverwaltungsgericht die Abschiebung als "offensichtlich rechtswidrig" verurteilte, fühlte sich dessen Präsidentin Brandts zu grundsätzlichen Anmerkungen genötigt. "Hier wurden offensichtlich die Grenzen des Rechtsstaates ausgetestet", klagte sie. Der Fall werfe "Fragen zu Demokratie und Rechtsstaat, insbesondere zu Gewaltenteilung und effektivem Rechtschutz, auf". Bisher seien Gerichte und Behörden grundsätzlich vertrauensvoll miteinander umgegangen. Darauf sei nun kein Verlass mehr.

Rechtsempfinden Der Fall Sami A., ein Wendepunkt? Dass die Gelsenkirchener Richter sich von Minister und Behörde übertölpelt fühlten, ist ihnen nicht zu verdenken. Dass aber bis dahin zwischen Politik und Justiz Harmonie und Einvernehmen geherrscht haben sollte, wie man der Klage der Präsidentin entnehmen könnte, wäre zu idyllisch, um wahr zu sein. Wenn robuster Entscheidungsdrang auf feinziselierte Vorbehalte trifft, Richter das "Rechtsempfinden der Bevölkerung", wie NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) in einem unbedachten Moment monierte, außer acht lassen, ist hin und wieder Krach programmiert. Auch dass Politik und Verwaltung eine richterliche Entscheidung, sogar eine letztinstanzliche, nicht oder nur widerwillig zur Kenntnis nehmen, ist schon vorgekommen.

So kippte im Juli 2014 das Bundessozialgericht eine Bestimmung aus einer damals drei Jahre alten Hartz-IV-Novelle, der zufolge behinderte Leistungsempfänger nur noch Anspruch auf 80 Prozent des Regelsatzes hatten, wenn sie bei Angehörigen lebten. Die Richter rügten eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes, doch ihr Spruch verhallte zunächst ohne Resonanz. Im Februar 2015 dann wies das zuständige Bundesministerium in Berlin die Sozialbehörden der Länder ausdrücklich an, das Urteil zu ignorieren.

Die obersten deutschen Sozialrichter hätten ihre Kompetenzen überschritten. Nur das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe könnte die gerügten Vorschriften außer Kraft setzen. Solange das nicht geschehe, "gelten diese in ihrer jetzigen Form fort". Politischer Druck sorgte dafür, dass das Ministerium sich schließlich bewegte, doch dauerte auch das noch mehr als anderthalb Jahre. Erst seit Anfang 2017 beziehen die Betroffenen wieder den vollen Regelsatz.

Nicht einmal Urteile des Bundesverfassungsgerichts werden immer und unter allen Umständen in ganz Deutschland anstandslos befolgt. Im Mai 2017 hatten die Karlsruher Roten Roben den Beschluss ostdeutscher Landesregierungen für rechtswidrig erklärt, eine 2008 fällige Besoldungsanpassung um zwei Jahre hinauszuzögern, und den betroffenen Beamten die rückwirkende Erstattung entgangener Bezüge zugesprochen. Geklagt hatten zwei Staatsdiener aus Sachsen, wo die Landesregierung sich beeilte, dem Gericht zu folgen.

»Nicht tangiert « Dagegen bekamen im November 2017 bestürzte Gewerkschafter in Mecklenburg-Vorpommern vom dortigen Finanzminister zu hören, dass dieser sich von dem Urteil nicht tangiert fühlte. Es habe außerhalb Sachsens keine zwingende Rechtswirkung, weshalb eine Nachzahlung entgangener Bezüge jedenfalls nicht in Frage komme. Bei dieser Sicht der Rechtslage ist der Minister, wie aus Gewerkschaftskreisen verlautet, seither im Prinzip geblieben.

Durch eine parlamentarische Anfrage der Grünen kam Ende Juli ans Licht, dass das Bundesinnenministerium damals bereits seit einem Vierteljahr zögerte, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Rechtsstellung minderjähriger Flüchtlinge zu befolgen. Der EuGH hatte im April einer Klage aus den Niederlanden stattgegeben und entschieden, dass die Betroffenen den Anspruch auf Familiennachzug auch dann noch behalten sollen, wenn sie im Laufe ihres Asylverfahrens die Schwelle zur Volljährigkeit überschritten haben. Als sich drei Monate später die Grünen nach den Rechtsfolgen erkundigten, lautete die Auskunft, die Prüfung sei noch nicht abgeschlossen, "ob und gegebenenfalls welche Auswirkungen auf die Rechtslage und praktische Umsetzung in Deutschland mit dem Urteil verbunden sind".

Den derzeit hartnäckigsten und bislang ungebrochenen Widerstand indes leistet das Gesundheitsministerium gegen ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Dieses hatte im März 2017 entschieden, der Staat dürfe unheilbar Kranken "in extremen Notlagen" Medikamente zur Selbsttötung nicht vorenthalten. Entsprechende Ausnahmegenehmigungen sind beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn zu beantragen. Im christdemokratisch geführten Gesundheitsministerium hatte das "im Ergebnis von allen Beteiligten völlig unerwartete Urteil" Schockwirkung. Minister Hermann Gröhe ging sofort auf Gegenkurs. Sein Nachfolger Jens Spahn (beide CDU) setzt diese Linie fort.

Dass der Staat sich niemals als Suizidgehilfen hergeben darf, ist gemeinsame Überzeugung in der Bonner Behörde wie im Ministerium. Dieses veröffentlichte im Januar ein Gutachten des ehemaligen Verfassungsrichters Udo di Fabio, der dem höchsten Verwaltungsgericht einen unzulässigen Eingriff in die gesetzgeberische Freiheit vorwirft und empfiehlt, die Befolgung des Urteils durch Erlass zu verbieten, bis der Bundestag eine gesetzliche Klarstellung geschaffen habe. Im Juni wies das Ministerium die Bonner Behörde an, Anträge auf Genehmigungen zum Erwerb todbringender Substanzen regelmäßig abzulehnen: "Es kann nicht Aufgabe des Staates sein, Selbstötungshandlungen (...) aktiv zu unterstützen."

Ungehorsam Offener Ungehorsam gegenüber höchstrichterlicher Rechtsprechung also - passt so etwas in ein geordnetes Staatswesen? Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, erhob unlängst einen mahnenden Zeigefinger: "Gerichtliche Entscheidungen, seien sie von erstinstanzlichen Gerichten oder vom Bundesverfassungsgericht, sind von anderen Hoheitsträgern zu respektieren und umzusetzen. Andernfalls ist es ein Verstoß gegen das rechtsstaatliche Versprechen, das wir uns gegenseitig in der Bundesrepublik gegeben haben. Ein Verstoß, der nicht zu tolerieren ist." Voßkuhle freilich hat gut reden. In manchen Berliner Kreisen gilt er selbst als Personifizierung des Spannungsverhältnisses zwischen Politik und Justiz.

Der Mann ist ja nichts weniger als öffentlichkeitsscheu und meldet sich regelmäßig mit Kommentaren zum Zeitgeschehen, zuletzt zur Wortwahl der CSU in der Asyldebatte: Begriffe wie "Herrschaft des Unrechts" oder "Anti-Abschiebe-Industrie" seien "inakzeptabel". Gelegentlich eingetrübt erscheint Voßkuhles Popularität im politischen Berlin nicht zuletzt durch Urteile zur europäischen Integration oder zum Wahlrecht, die nach Ansicht von Kritikern Parlament und Regierung in ihren Handlungsspielräumen über Gebühr einschränken oder vor unlösbare Aufgaben stellen.

Nach der Karlsruher Entscheidung, dass Überhangmandate in einem neu gewählten Bundestag auszugleichen sind, ist die Suche nach einer Regelung, die verfassungskonform sein, zugleich aber keine übermäßige Aufblähung des Parlaments mit sich bringen soll, noch immer nicht abgeschlossen. So wurde der aktuelle Bundestag mit 709 Mandaten zum größten in der Geschichte der Bundesrepublik. In ihrem Urteil zum EU-Vertrag von Lissabon schrieben die Richter 2009 einen Katalog von Kernkompetenzen des Bundestages fest, die ohne irreparablen Schaden für die Demokratie in Deutschland keinesfalls in europäische Zuständigkeit abwandern dürften.

Europawahlen Als sie 2011 die Fünf-Prozent-Hürde bei Wahlen zum Europaparlament für verfassungswidrig erklärten, geschah dies unter anderem mit dem Hinweis, Zweck einer Sperrklausel sei es, die Bildung regierungsfähiger Mehrheiten zu erleichtern. Dies zähle aber gar nicht zu den Aufgaben der Straßburger Versammlung, deren Bedeutung insofern geringer einzustufen sei als die der nationalen Parlamente - ein Argument, das als Unfreundlichkeit gegenüber der europäischen Idee empfunden wurde.

Als beharrlicher Kritiker der Karlsruher Rechtsprechung entpuppte sich im Laufe seiner Amtszeit der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU). Bereits 2010 bescheinigte er den Verfassungsrichtern Realitätsferne mit Blick auf Europa und einen veralteten Begriff nationaler Souveränität. Die Lissabon-Entscheidung sei "kühn und nach meinem persönlichen Urteil weder historisch noch politisch noch juristisch hinreichend begründet". Das Gericht habe die Verfassung auszulegen wie sie sei, "und nicht eine, die man gerne hätte".

Zwei Jahre später unternahm Lammert einen Vorstoß, neue Verfassungsrichter nicht wie bisher in einem diskreten Politikergremium bestimmen, sondern im Plenum des Bundestages wählen zu lassen. Jetzt war es Karlsruhe, wo sich die Begeisterung in Grenzen hielt. Die wiederholt betätigte Neigung der Richter, Sperrklauseln bei Kommunalwahlen zu verwerfen, nahm Lammert 2015 aufs Korn. Er beklagte "ruinöse Folgen" und geißelte einen "deutlich erkennbaren Gestaltungsanspruch" der Juristen in "hochpolitischen Fragen".

Kurz vor Ende seiner Amtszeit holte Lammert 2017 ein letztes Mal zu einer Abrechnung mit "richterlichem Übereifer" aus und formulierte in einem Zeitungsbeitrag eine Warnung: "Ein sich in seinen Gestaltungsspielräumen limitiert sehender Gesetzgeber wird sich (...) womöglich zu wehren suchen, indem er Dinge, für die nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts eine hinreichende (...) Legitimation bislang noch nicht bestanden hat, seinerseits in die Verfassung schreibt, um für künftige Fälle eine ungewollte Rechtsprechung möglichst zuverlässig zu verhindern."

Nötige Selbstbeschränkung Lammerts Klage über richterlichen Übereifer klang freilich wie das ferne Echo eines Stoßseufzers, der dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) bereits im Oktober 1978 entfahren war: "Es kann nicht jeder seine Kompetenzen bis an den Rand ausschöpfen wollen. Das Verfassungsgericht muss sich darüber klar sein", hatte Schmidt gemahnt und von der "Notwendigkeit der Selbstbeschränkung" gesprochen.

Die sozialliberale Regierung hatte die Roten Roben im Verdacht, sich von der Opposition instrumentalisieren zu lassen, um ihren außen- und gesellschaftspolitischen Reformen Steine in den Weg zu legen. Doch schon in den christdemokratisch dominierten Anfangsjahren der Republik war das Verhältnis gelegentlich spannungsgeladen. "Das Kabinett war sich darin einig, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts falsch ist", grollte etwa Konrad Adenauer (CDU), nachdem sein Projekt eines regierungsnahen bundesweiten Fernsehens in Karlsruhe Schiffbruch erlitten hatte.

Dass die Richter einer Regierung derart brüsk in den Arm fallen, ist freilich nicht die Regel. Viel eher halten sie sich an die Linie, wichtige, von politischen oder gesellschaftliche Mehrheiten gewünschten Weichenstellungen nicht zu blockieren, sondern Bedingungen für ihre verfassungskonforme Umsetzung zu formulieren - so in den Entscheidungen zu Abtreibung, Auslandseinsätzen der Bundeswehr, Euro. Ein solches "Ja-Aber-Urteil" betraf 1973 auch den Grundlagenvertrag: Das Gericht ließ ihn passieren, allerdings mit der Klarstellung, dass er keine definitive Anerkennung der DDR bedeuten dürfe.

"In der Folge behielt jeder DDR-Bürger einen Anspruch auf einen bundesdeutschen Pass", bilanzierte Jahrzehnte später der frühere Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier. "Diese Entscheidung erwies sich als segensreich und bereitete der deutschen Einheit den Boden."