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Bekämpfung des Terrorismus : »Unüberwindbare Hürde«

Menschenleben dürfen nicht gegeneinander aufgerechnet werden

15.07.2019
2023-08-30T12:36:25.7200Z
4 Min

Nach rund 80 Minuten Verhandlung fällt das Urteil eindeutig aus: 86,9 Prozent der an der Urteilsfindung beteiligten Zuschauer sprechen den wegen 164-fachen Mordes angeklagten Luftwaffen-Major Lars Koch am Abend des 17. Oktober 2016 nach der Ausstrahlung des ARD-Fernsehfilms "Terror - Ihr Urteil" in einer Telefon-Abstimmung frei. Das TV-Drama inszeniert einen fiktiven Prozess vor einem Schwurgericht gegen einen Kampfpiloten der Bundeswehr, der ein von Terroristen entführtes Passagierflugzeug mit 164 Menschen an Bord auf dem Flug von Berlin nach München abgeschossen hat. Nachdem dieses seinen Kurs auf die mit 70.000 Menschen gefüllte Allianz-Arena geändert hatte, befürchtete der Luftwaffen-Pilot, dass der Entführer die Passagiermaschine bewusst in das Münchner Fußballstadion steuert und zehntausende Menschen töten will. Seinem Gewissen folgend, entschloss sich der Major gegen die Befehle seiner Vorgesetzten für den Abschuss des Flugzeuges. Alle 164 Insassen werden getötet, die 70.000 Menschen im Stadion hingegen leben.

In der öffentlichen Debatte wurde der Fernsehfilm von Regisseur Lars Kraume nach dem gleichnamigen Theaterstück von Ferdinand von Schirach äußerst kontrovers diskutiert. Während der frühere Bundesgerichtshof-Richter und damalige "Zeit-Online"-Kolumnist Thomas Fischer den Film und die Abstimmung der Zuschauer als "Rechtsshow der billigen Sorte" kritisierte, befand der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio, dass das Stück den "verfassungsrechtlichen Grenzfall" trotz aller dramaturgischen Zuspitzung "sehr deutlich gemacht" habe.

Karlsruher Urteil Rund zehn Jahre vor der Ausstrahlung des Fernsehfilms hatte das Bundesverfassungsgericht prinzipiell über die Frage zu entschieden, ob Menschenleben in einer solchen Extremsituation gegeneinander aufgewogen werden dürfen. Und das Urteil der Karlsruher Richter fiel nicht minder eindeutig aus als das der Fernseh-Jury: Der Abschuss eines entführten Passagierflugzeuges ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Auch dann nicht, wenn die Menschen an Bord wegen eines befürchteten Terrorangriffs mit dem Flugzeug dem Tod geweiht sind, auch dann nicht, wenn durch den Abschuss weit mehr Opfer vermieden werden können.

Auslöser des Urteils war eine Klage gegen das von der rot-grünen Bundesregierung vorgelegte und vom Bundestag im Juni 2004 beschlossene Luftsicherheitsgesetz. Dies sollte den Abschuss eines entführten Passagierflugzeuges nach Paragraf 14 Absatz 3 ermöglichen, wenn "davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll".

Das Luftsicherheitsgesetz war wie viele andere Anti-Terror-Gesetze, die unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. September 2001 und anderer Terrorakte in den folgenden Jahren verabschiedet wurden, von Anfang an rechtlich, politisch und ethisch höchst umstritten. Im Kern ging es stets um die Frage, inwieweit der Staat die Grundrechte seiner Bürger beschneiden darf, um gleichzeitig ihre Grundrechte zu schützen. Auch Bundespräsident Horst Köhler ließ das Luftsicherheitsgesetz von den Juristen im Bundespräsidialamt deutlich länger prüfen als üblich. Köhler unterzeichnete das Gesetz zwar, äußerte öffentlich jedoch erhebliche Zweifel an seiner Verfassungsmäßigkeit und regte an, es vom Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen.

Menschenwürde In seinem Urteil vom 15. Februar 2006 stellte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts unmissverständlich fest, dass ein Abschuss mit dem in Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz verbrieften "Recht auf Leben" in Verbindung mit der Garantie der Menschenwürde in Artikel 1 nicht vereinbar ist, "soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden". Die Regelung des Paragrafen 14 Absatz 3 sei deshalb verfassungswidrig und nichtig. Und weiter urteilten die Richter, es sei "schlechterdings unvorstellbar", auf gesetzlicher Grundlage unschuldige Menschen in hilfloser Lage vorsätzlich zu töten. Ein Abschuss käme lediglich in Frage, wenn ausschließlich die Entführer an Bord des Flugzeuges seien. Doch selbst dies schränkte das Bundesverfassungsgericht ein, da dass Grundgesetz einen bewaffneten Einsatz der Bundeswehr im Inland in Friedenszeiten nach Artikel 35 nicht vorsehe.

Für Verfassungsrechtler wie Volker Epping, der sich bereits während des Gesetzgebungsverfahrens als Sachverständiger vor dem Innenausschuss des Bundestages gegen das Gesetz ausgesprochen hatte, war nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes klar: "Über diese Hürde kommt kein Gesetzgeber hinweg." Und doch ließ Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) im September 2007 keinen Zweifel daran, dass er gewillt ist, diese Hürde zu überspringen. Öffentlich bekannte er sich dazu, den Befehl für einen Abschuss notfalls doch zu geben. "Wenn es kein anderes Mittel gibt, würde ich den Abschussbefehl geben, um unsere Bürger zu schützen", sagte er und berief sich auf den sogenannten "übergesetzlichen Notstand". Im Grundgesetz oder einem anderen deutschen Gesetzbuch wird man diesen unter Rechtsgelehrten umstrittenene Begriff vergebens suchen. Er beschreibt eine Ausnahmesituation, in denen Handlungen rechtlich nicht zweifelsfrei normiert sind, sich jedoch aus Rechtsprinzipien von gleichem oder höherem Gewicht ableiten lassen.

Auf der politischen Bühne sorgte Jungs Äußerungen vor allem bei SPD, Grünen und Linken für heftige Kritik, sie kämen einem "Aufruf zum Verfassungsbruch" gleich. Auch in den Reihen der Bundeswehr stieß Jung auf Empörung. "Ich kann den Piloten nur empfehlen, in einem solchen Fall dem Befehl des Ministers nicht zu folgen", sagte der Vorsitzende des Verbandes der Besatzungen strahlgetriebener Kampfflugzeuge, Tomas Wassermann. Ein solcher Befehl wäre rechtswidrig. In der Tat ist es deutschen Soldaten laut Soldatengesetz ausdrücklich verboten, einen Befehl zu befolgen, der eine Straftat darstellt.

»Katastrophisches Ausmaß« Jung und auch andere Unionspolitiker wie der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) drängten in der Diskussion vergeblich auf eine Änderung des Grundgesetzes, um den bewaffneten Einsatz der Bundeswehr im Inland bei einer terroristischen Bedrohung zu ermöglichen. Entsprechende Änderungen der Artikel 35 und 87a hatte die Union bereits in den Verhandlungen über das Luftsicherheitsgesetz gefordert.

Im August 2012 entschied dann das Bundesverfassungsgericht, dass die Bundeswehr zur Abwehr einer terroristischen Gefahr "katastrophischen Ausmaßes" auch im Inland Waffengewalt einsetzen darf. Der Abschuss eines entführten und mit Passagieren besetzten Flugzeuges ist aber verfassungsrechtlich auch weiterhin die unüberwindbare Hürde.