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Religionsfreiheit : Glaubensfrage

Ob Kopftuch, Kruzifix oder Kirchengeläut - die Grenzen von Artikel 4 loten Staat, Gesellschaft und Justiz regelmäßig neu aus

15.07.2019
2023-08-30T12:36:25.7200Z
6 Min

Mehr als zwanzig Jahre ist er alt, der deutsche Streit um das muslimische Kopftuch. Und noch immer hält die Kopfbedeckung Politik, Medien und Gerichte auf Trab. So entschied das Berliner Landesarbeitsgericht erst Ende November 2018: Dass die Bewerbung einer Informatikerin für den Schuldienst an ihrem Kopftuch scheiterte, war Diskriminierung.

Es war nicht das erste Mal, dass sich Richter damit gegen geltende Gesetze zur Religionsausübung stellten. In diesem Fall gegen das Berliner Neutralitätsgesetz, das religiöse Symbole im öffentlichen Dienst der Hauptstadt verbietet. Der Senat will das Gesetz nun höchstrichterlich durch das Bundesarbeitsgericht in Erfurt überprüfen lassen - und notfalls sogar vor das Bundesverfassungsgericht ziehen.

Dort landen immer wieder Klagen rund um religiöse Riten und Symbole. Ob Beschneidung, Glockengeläut, Karfreitagsruhe, Schächten oder eben der Streit um das Kopftuch - Artikel 4 des Grundgesetzes ist und bleibt ein juristischer Dauerbrenner.

So steht es im Grundgesetz. Artikel 4 ist danach ein Freiheitsrecht, das es jedem ermöglicht, zu glauben, an was und wen er will und diesen Glauben auch öffentlich zu praktizieren. Der Staat hat dabei allen Religionen und Weltanschauungen neutral und tolerant gegenüberzustehen und darf sich keinesfalls mit einem bestimmten Bekenntnis gemein machen, wie das Bundesverfassungsgericht in den 1960er Jahren klarstellte. Auf diesem Neutralitätsgebot basiert unter anderem der Karlsruher Kruzifix-Beschluss von 1993. Damals urteilten die Richter: Der Staat darf den religiösen Frieden nicht von sich aus gefährden. Das Kreuz, vor allem in Bayern jahrzehntelang festes Inventar in Amts- und Schulstuben, muss im Zweifelsfall aus dem Klassenzimmer weichen.

Der Streit um Kruzifixe und Kopftücher steht exemplarisch für das Spannungsfeld, in dem sich Artikel 4 bewegt. Welche Einschränkungen der Religionsfreiheit sind legitim? Was geht beispielsweise bei der Debatte über die Beschneidung von Jungen vor - die Religionsfreiheit oder das Selbstbestimmungsrecht des Kindes? Was wiegt mehr bei der Diskussion über ein Verbot von Kopftüchern für muslimische Grundschülerinnen, wie es gerade in Österreich beschlossen wurde? Artikel 4 und das Erziehungsrecht der Eltern oder das Kindeswohl und das Ziel der Gleichberechtigung der Geschlechter? Darf der Staat überhaupt Symbole einzelner Religionen untersagen oder muss er mit Blick auf das Neutralitätsgebot dann nicht alle religiösen Symbole in öffentlichen Einrichtungen verbieten?

"Es geht im Einzelfall darum, die in Streit stehenden Rechtsansprüche so in Beziehung zu setzen, dass für alle das Maximum herauskommt", erklärt der Nürnberger Menschenrechts-Experte und Theologe Heiner Bielefeldt. Es gelte, möglichst schonend mit Konflikten umzugehen und tatsächliche Kollisionen von gefühlten zu unterscheiden. Der Streit um das Kopftuch ist für Bielefeldt eine solche gefühlte Kollision, die auf bestimmten Zuschreibungen - das Kopftuch als Mittel zur Unterdrückung der Frauen - beruhe. Mit derart pauschalen Bewertungen müsse man in einer pluralistischen Gesellschaft und angesichts einer vielfältigen innerislamischen Diskussion vorsichtig sein, warnt er. Statt einer polarisierenden Debatte und Verboten plädiert Bielefeldt für mehr Dialog.

Auch Cordula Heckmann, Direktorin und Leiterin des Rütli-Campus in Berlin-Neukölln mit einem hohen Anteil von Muslimen, setzt lieber auf Gespräche mit Schülern und Eltern. Man bemühe sich, Konflikte im Voraus zu erkennen und sie dort auszutragen, wo sie wichtig sind - bei der Anerkennung der demokratischen Grundwerte. Daher bietet die Schule auch keinen koedukativen Sportunterricht an. Mädchen und Jungen schwitzen getrennt.

Politisch vom Tisch ist das Kopftuch-Thema dennoch nicht. So wertet die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen gerade ein von ihr beauftragtes Gutachten zu der Frage aus, ob das Tragen des Kopftuchs an Schulen wenigstens bis zur Religionsmündigkeit, also dem 14. Lebensjahr, untersagt werden kann. Im Auftrag des stellvertretenden Vorsitzenden der Unions-Bundestagsfaktion, Carsten Linnemann, und des Unions-Berichterstatters für Religionsgemeinschaften, Christoph de Vries (beide CDU), widmet sich der Würzburger Staatsrechtler Kyrill-Alexander Schwarz derzeit dem selben Sujet. "Wir wollen eine sorgfältige verfassungsrechtliche Einordnung des Themas und eine Abwägung der unterschiedlichen Grundrechtsgüter vornehmen", erklärt de Vries auf Nachfrage. Er respektiere die Freiheit des religiösen Bekenntnisses und das elterliche Erziehungsrecht. "Ich nehme aber auch das staatliche Wächteramt ernst, wenn es darum geht, für das Wohl muslimischer Mädchen und ein gleichberechtigtes Aufwachsen einzutreten". Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages kam bereits 2017 zu dem Schluss, dass ein generelles Kopftuchverbot für Grundschülerinnen verfassungsrechtlich wohl nicht zulässig sei. Parlamente und Gerichte haben in der Vergangenheit häufig zugunsten der Religionsfreiheit entschieden. So beschloss der Bundestag 2012, dass die Beschneidung von jüdischen und muslimischen Jungen in Deutschland erlaubt bleiben soll. 2002 befand das Bundesverfassungsgericht, dass Muslimen das rituelle Schlachten von Schafen und Rindern ohne vorherige Betäubung nicht generell verboten werden kann. 2015 erklärte es ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrkräfte in öffentlichen Schulen für mit der Verfassung nicht vereinbar und stellte sich damit gegen die in vielen Bundesländern bestehenden Gesetze für Kopftuchverbote und deren Auslegung.

Andererseits können sich muslimische Mädchen seit 2013 nicht mehr aus religiösen Gründen vom gemeinsamen Schwimmunterricht von Jungen und Mädchen befreien lassen. In seinem Urteil stellte das Bundesverwaltungsgericht den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag über die Glaubensfreiheit und verwies auf das Tragen eines Ganzkörperschwimmanzugs ("Burkini") als akzeptablen Kompromiss.

Erst im Februar hat das Bundesarbeitsgericht mit Blick auf die katholische Kirche ein bahnbrechendes Urteil gefällt; es dürfte ihren Handlungsspielraum im Arbeitsrecht erheblich einschränken. Geklagt hatte 2009 der Chefarzt eines katholischen Krankenhauses, dem gekündigt wurde, weil er sich scheiden ließ und standesamtlich erneut heiratete. Die Kündigung erklärten die Erfurter Richter nun für unwirksam. Der katholische Arzt sei gegenüber seinen nicht-katholischen Kollegen unzulässig benachteiligt worden, befanden sie.

Den Weg zu diesem Urteil hatte im September 2018 der Europäische Gerichtshof bereitet. Gleichheit muss vor kirchlicher Selbstbestimmung kommen, hatte er entschieden - für die christlichen Kirchen, hierzulande mit rund 1,3 Millionen Beschäftigten einer der größten Arbeitgeber, eine Zäsur. Sie berufen sich bei ihren umstrittenen Personalentscheidungen auf den ihnen zustehenden Tendenzschutz. Mitarbeiter, die an der kirchlichen Verkündigung teilnehmen, dürfen danach nicht gegen fundamentale Glaubenssätze verstoßen. Frauen dürfen deshalb keine Priester werden, heiratswillige Priester bekommen Berufsverbot. Kaum Chancen auf einen Job hat mancherorts, wer schwul, geschieden, wiederverheiratet oder nicht getauft ist. Weil sich das nach dem Erfurter Urteil ändern dürfte, könnte der Fall schon bald vor dem Bundesverfassungsgericht landen.

Veränderte Realitäten Die wachsende religiöse Vielfalt in Deutschland und die durch Zuwanderung steigende Zahl der Muslime - rund 4,5 Millionen sind es inzwischen - stellen die Sonderrolle der Kirchen auch darüber hinaus zunehmend in Frage. Bisher wird an den meisten öffentlichen Schulen nur evangelische und katholische Religion beziehungsweise Weltanschauungsunterricht gelehrt. Und es sind in erster Linie die Kirchen, die einen Status als Körperschaften des öffentlichen Rechts besitzen, der sie berechtigt, Steuern bei ihren Mitgliedern einzuziehen und Subventionen zu erhalten. "Islamische Religionsgemeinschaften haben dagegen noch immer keinen klaren Status in Deutschland", kritisiert Heiner Bielefeldt. Die Praxis der Religionsfreiheit hinke den veränderten Realitäten hinterher. So sei es bisher nicht gelungen, einen flächendeckenden islamischen Religionsunterricht zu etablieren.

Ein Grund dafür ist allerdings auch das Fehlen verlässlicher Kooperationsstrukturen zwischen Staat und islamischen Gemeinschaften. So wird der größte deutsche Islamverband Ditib vom türkischen Religionsministerium mitfinanziert und gelenkt.

Abseits dessen bereitet Bielefeldt aber noch eine andere Beobachtung Sorge: "Während die Rechtsprechung die Religionsfreiheit nach wie vor hochhält, scheint das gesellschaftliche Verständnis für den Sinn dieses Menschenrechts zu schrumpfen oder zu schwinden", meint er. Besonders schockierend sei das bei einigen Positionierungen in der Beschneidungsdebatte gewesen, die vor allem das Judentum betroffen habe.

Eine aktuelle repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov bestätigt diese Wahrnehmung. Danach betrachten heute nur 54 Prozent der Deutschen die Religionsfreiheit als "sehr" oder "äußerst wichtig". Für die Menschenrechte im Allgemeinen trifft diese Aussage für 77 Prozent zu.