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Bundesverfassungsgericht : Ein politisches Gericht

Karlsruhe steuert eher subtil und wirkt nur selten als Ersatzgesetzgeber

15.07.2019
2023-08-30T12:36:25.7200Z
5 Min

Das Bundesverfassungsgericht misst Gesetze und Gerichtsurteile am Grundgesetz und betreibt dabei offensichtlich Politik. Das zu bestreiten, gehört aber zu seiner Inszenierung. Das Gericht hat mehr Autorität, wenn die Bürger glauben, es verteidige nur einen bereits feststehenden Inhalt des Grundgesetzes.

Viele westliche Staaten haben gar kein Verfassungsgericht. In der EU haben nur 18 von 28 Staaten ein Gericht, das die Aufgabe hat, die Normen der Verfassung durchzusetzen. Das deutsche Verfassungsgericht ist unter ihnen schon deshalb besonders mächtig, weil es eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung hat. Von ihm wird geradezu erwartet, dass es immer wieder die Politik in die Schranken weist. In Deutschland war der Rechtsstaat stets populärer als die Demokratie.

Oft bestreiten die Verfassungsrichter ihre politische Rolle. Sie seien nur ein Gericht, das das Grundgesetz sichere, auf Klagen warte und die bisherigen Pfade der Karlsruher Rechtsprechung beachte. Doch ein Kläger findet sich bei Bedarf immer. Und nach jahrzehntelanger Rechtsprechung finden sich auch für neue Ideen genug Ansätze in den bisherigen Urteilen. Notfalls kann das Bundesverfassungsgericht auch einfach seine Linie ändern.

Die politische Gestaltungsmacht des Verfassungsgerichts hat vor allem zwei Grundlagen. Zum einen definiert es selbst die Maßstäbe, die es anwendet. Die Grundgesetzbestimmungen sind oft offen und unbestimmt formuliert, vor allem im Grundrechtsteil. Das Bundesverfassungsgericht konkretisiert sie und schafft so den eigentlichen Maßstab. Bei Bedarf können die Richter auch ganz neues Verfassungsrecht erfinden. Bekannteste Beispiele hierfür sind das Datenschutz-Grundrecht auf "informationelle Selbstbestimmung" und der Parlamentsvorbehalt für Auslandseinsätze der Bundeswehr.

Nicht mit der Kanone Noch wichtiger für die politische Rolle des Verfassungsgerichts ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Der Staat soll nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen, lautet eine populäre Formel. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist immer anwendbar, wenn der Staat in Grundrechte eingreift. Wenn der Staat mehr verlangt, als für seine Zwecke nötig oder angemessen wäre, kann Karlsruhe das Gesetz beanstanden. Es ersetzt dann die Abwägung des Gesetzgebers durch seine eigene Abwägung und verlangt (meist kleine) Änderungen. Ein Gesetz muss dann nicht in Bausch und Bogen verworfen werden.

Oft wird das Bundesverfassungsgericht als Ersatzgesetzgeber bezeichnet. Doch das ist ungerecht. Die Karlsruher Richter versuchen, dem Bundestag und der Bundesregierung einen weiten Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu belassen. Besonders groß ist der politische Spielraum bei der Erfüllung von Schutzpflichten, bei der Gewährung von Sozialleistungen oder in der Außenpolitik.

Wichtige Projekte der Politik werden, auch wenn Karlsruhe sie beanstandet, nicht generell blockiert. Meist werden vom Gericht im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nur Details moniert. Der Gesetzgeber muss dann nur eine "Strafrunde" drehen, das Gesetz entsprechend der Karlsruher Vorgaben nachbessern und neu beschließen. Schon wird aus einer hoch umstrittenen Maßnahme ein offensichtlich verfassungskonformes Gesetz, etwa bei der heimlichen Ausspähung von Computern ("Online-Durchsuchung").

Seine Macht setzt das Bundesverfassungsgericht nicht zuletzt ein, um in Deutschland eine offene liberale Demokratie zu sichern. Es hat das Parlament gegenüber der Regierung gestärkt, die Opposition gegenüber der Mehrheit und die außerparlamentarischen Kräfte gegenüber der etablierten Politik. Deshalb hat es auch die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit zu starken Grundrechten ausgestaltet. Auch weithin ausgegrenzte Gruppen haben so die Möglichkeit, sich zu artikulieren. Daneben hat das Bundesverfassungsgericht eine wichtige Rolle als gesellschaftlicher Konfliktlöser. Oft werden notwendige, aber unbeliebte Reformen erst angepackt, wenn Karlsruhe explizit Änderungen verlangt und auch noch Vorgaben dazu macht. Jüngstes Beispiel ist die Reform der Grundsteuer, die jahrelang verschleppt wurde, bis Karlsruhe 2018 schließlich eine Änderung verlangte.

Das Verfassungsgericht steuert nicht brachial, sondern eher subtil, indem es die gesellschaftliche Atmosphäre beeinflusst. Die regelmäßige punktuelle Beanstandung von Sicherheitsgesetzen hat den Gesetzgeber vorsichtig werden lassen. Und die stets kritische Prüfung weiterer EU-Integrationsschritte hat EU-Skeptiker gestärkt.

Homosexuelle Partnerschaften Wie umsichtig das Bundesverfassungsgericht vorgeht, zeigt exemplarisch die Auseinandersetzung um die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften. Die verfassungsrechtliche Auseinandersetzung begann 1992 mit der "Aktion Standesamt". Bundesweit beantragten 250 schwule und lesbische Paare bei ihrem jeweiligen Standesamt das Aufgebot, um zu heiraten. Natürlich lehnten die Standesbeamten die Anträge ab, worauf die Betroffenen klagten. Doch das Bundesverfassungsgericht entschied 1993, dass "die Geschlechtsverschiedenheit zu den prägenden Merkmalen der Ehe" gehöre. Das Gericht verweigerte damals also ausdrücklich die Rolle als Motor der Emanzipation. Immerhin haben sich die Verfassungsrichter dafür offen gezeigt, später auf einen gesellschaftlichen "Wandel des Eheverständnisses" zu reagieren.

Die Politik wartete nun aber nicht, bis sich die gesellschaftlichen Verhältnisse von selbst änderten, sondern führte im Jahr 2000 unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) die eingetragene Partnerschaft für homosexuelle Paare ein. Obwohl mit der Partnerschaft damals fast nur Pflichten und wenig Rechte verbunden waren - eine weitergehende Gleichstellung hatte die Union im Bundesrat verhindert -, klagten drei Länder beim Bundesverfassungsgericht. Bayern, Thüringen und Sachsen wollten Karlsruhe als Bremser aktivieren. Mit knapper Mehrheit wies der Erste Senat die Klagen ab. Es gebe kein Abstandsgebot zwischen der Ehe und anderen Lebensformen. Diesen Spielraum nutzte wiederum der Bundestag 2005, um die eingetragenen Partnerschaften zu stärken und zum Beispiel Stiefkindadoption zu erlauben.

Schritt für Schritt Parallel versuchten homosexuelle Kläger wieder, das Gericht zu aktivieren. Zunächst ohne Erfolg. 2007 und 2008 lehnte es Karlsruhe ab, den Gesetzgeber zur Gleichstellung der eingetragenen Partnerschaften im Beamtenrecht zu verpflichten. Die Wende kam erst 2009: In einer Entscheidung zur betrieblichen Altersversorgung im öffentlichen Dienst forderte der Erste Senat den Bundestag erstmals zur Gleichstellung von eingetragenen Partnerschaften auf. Diese seien genauso wie Ehen auf Dauer angelegt und von wechselseitiger Verantwortung geprägt. Es folgten ähnliche Urteile zur Erbschaftssteuer, zur Grunderwerbssteuer, zum Adoptionsrecht und zum Ehegattensplitting.

Nicht das letzte Wort Den logischen nächsten Schritt, die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, ging nun wieder der Gesetzgeber. Am 30. Juni 2017 beschloss der Bundestag die Einführung der "Ehe für alle". Auf eine Grundgesetzänderung wurde verzichtet. Bayern prüfte eine Verfassungsklage, verzichtete letztlich aber darauf, weil diese wohl eher unpopulär gewesen wäre. Der Rückblick zeigt, dass das Bundesverfassungsgericht nur phasenweise als Motor der Gleichstellung wirkte. Es wartete zunächst ab, bis die Akzeptanz für gleichgeschlechtliche Partnerschaften in der Bevölkerung groß genug war, fegte dann aber den verbliebenen Widerstand mit mehreren Urteilen wirkungsvoll beiseite, bis am Ende wieder der Gesetzgeber die Gleichstellung mit der Öffnung der Ehe vollendete. Nicht immer hat Karlsruhe das letzte Wort. Christian Rath

Der Autor ist freier rechtspolitischer Korrespondent.