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Verfassungsreform : Ein Erbe des Einigungsvertrages

Nach jahrelanger Diskussion beschloss der Gesetzgeber 1994 nur kleine Eingriffe ins Grundgesetz

15.07.2019
2023-09-22T13:24:40.7200Z
3 Min

Acht Tage nach dem Beschluss der DDR-Volkskammer, dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beizutreten, wurden am 31. August 1990 die Verhandlungen über den deutsch-deutschen Einigungsvertrag abgeschlossen. Damit war auch entschieden, dass das Grundgesetz als Verfassung des vereinten Deutschlands gelten würde.

Gleichwohl blieb auch das Grundgesetz von der Einheit nicht gänzlich unberührt: Nicht nur war im Einigungsvertrag eine Reihe "beitrittsbedingter Änderungen des Grundgesetzes" aufgelistet, die beispielsweise die Präambel betrafen. Der Vertrag empfahl dem künftig gesamtdeutschen Gesetzgeber auch, "sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen". Dazu zählten auch "Überlegungen zur Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz".

Kommission eingesetzt Um diesem Auftrag nachzukommen, setzten Bundestag und Bundesrat im November 1991 die "Gemeinsame Verfassungskommission" unter Vorsitz von Hamburgs Erstem Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) und dem CDU-Bundestagsabgeordneten Rupert Scholz ein. Sie wurde als Kompromiss zwischen dem Ruf nach einer neuen Verfassung für das geeinte Deutschland und dem Wunsch nach Beibehaltung des Grundgesetzes verstanden. Schon die Größe des Gremiums war umstritten: Die oppositionellen Sozialdemokraten und Bündnisgrünen hatten Anträge für einen "Verfassungsrat" mit 120 beziehungsweise 160 Mitgliedern eingebracht, über dessen Ergebnisse in einer Volksabstimmung entschieden werden sollte. Die Koalition von Union und FDP wollte dagegen lediglich einen Verfassungsausschuss mit je 16 Mitgliedern von Bundestag und Bundesrat; am Ende umfasste die Verfassungskommission dann insgesamt 64 Mitglieder.

Die Arbeit der ab April 1992 öffentlich tagenden Kommission wurde von einer interessierten Öffentlichkeit begleitet. Ihre Mitglieder hatten eine Flut von Eingaben zu sichten, mehr als eine Viertelmillion alleine zu Fragen der direkten Demokratie. Zahlreiche gesellschaftliche Gruppierungen versuchten durch Initiativanträge Einfluss auf die Kommission zu nehmen. Deren Mitglieder überprüften knapp die Hälfte aller Grundgesetzartikel, um festzustellen, ob sie geändert oder überprüft werden sollten.

Unstrittig waren die schon im Einigungsvertrag genannten Änderungen. Das betraf etwa den überflüssig gewordenen Artikel 23 über den Beitritt zum Grundgesetz. Er wurde zum Europa-Artikel umformuliert, der die Übertragung von Hoheitsrechten betrifft und die Stärkung der EU als Staatsziel beschreibt, und trat schon Ende 1992 im Zusammenhang mit dem Maastricht-Vertrag in Kraft. Keine Einigung gab es bei Anträgen von Bündnisgrünen und der SPD, die auf eine Weiterentwicklung des Grundgesetzes, auf mehr Bürgerbeteiligung und soziale Grundrechte zielten. Weil Entscheidungen eine Zweidrittel-Mehrheit verlangten und die Mehrheitsverhältnisse den Reform-Befürwortern wenig Chancen gaben, plädierte die Kommission in nur wenigen Fällen für eine entsprechende Änderung.

Als sie im November 1993 ihren Schlussbericht (12/6000) vorlegte, war die Zahl ihrer Empfehlungen überschaubar; neben Themen wie Gleichberechtigung und Umweltschutz ging es zumeist um Fragen der Staatsorganisation. Große Änderungen des Grundgesetzes oder auch die Forderung nach einem Volksentscheid über diese Verfassung hatten keine Mehrheit gefunden; auch folgte der Gesetzgeber den Empfehlungen nur bedingt.

Die Grundgesetzänderungen, die der Bundestag schließlich am 30. Juni 1994 beschloss, betrafen im Bereich der Grundrechte und Staatszielbestimmungen vor allem Artikel 3, mit dem der Staat verpflichtet wurde, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken. Ergänzt wurde der Artikel durch den Satz: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Neu eingefügt wurde Artikel 20a mit der Formulierung: "Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen."

Die schon damals diskutierte Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung sollte erst 2002 den Weg ins Grundgesetz finden; über die ebenfalls bereits 1994 geforderte Verankerung spezieller Kinderrechte diskutiert der Bundestag noch heute.