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EDITORIAL : Politik in der Pflicht

07.01.2019
2023-08-30T12:36:14.7200Z
2 Min

Was hat Sex mit Politik zu tun und Politik mit Sex? Einiges, wenn man nur an die öffentliche Erregung über Oral-Sex im Oval Office oder die Macho-Kommentare von Donald Trump ("Grab them by the pussy") denkt. Das Private ist politisch - der alte Sponti-Spruch hat an Aktualität nichts eingebüßt. Doch auch für die "normalen Bürger" war privat nie einfach privat. Jahrhundertelang bestimmten Staat und Kirche, was sie miteinander treiben durften und zu welchem Zweck, wobei zwischen dem Propagierten und der gelebten Praxis wohl häufiger zu unterscheiden war, als die Traditionalisten ahnten.

Doch erst als nackte Kommunarden vor 50 Jahren gegen die prüde Sexualmoral ihrer Eltern aufbegehrten, fielen die größten Tabus auch öffentlich. "Sex-Papst" Oswald Kolle brachte die neue Lebensart auf den Punkt: "Es gibt nicht nur eine Sexualität, sondern viele."

Die Politik hinkte dieser Erkenntnis jedoch lange hinterher. So sind Schwule und Lesben erst seit dem Sommer 2017 rechtlich beinahe in vollem Umfang gleichgestellt. Und erst vor wenigen Tagen stimmte der Bundestag, auf Verlangen des Bundesverfassungsgerichts, für ein drittes Geschlecht im Geburtenregister.

Die Liste ließe sich fortführen und zeigt auf, wie groß die Beharrungskräfte von Staat und Gesellschaft nach wie vor sind - und wie komplex der Regelungsbedarf, den die öffentlich gelebte Diversität mit sich bringt. Das zeigen auch die Debatten über den Paragrafen 219a und moderne Lehrpläne zur Sexualaufklärung.

Natürlich ist das Thema hochemotional. Sex und damit Fragen der Identität, des Geschlechts, der Liebe - all das berührt das Privateste und Intimste des Menschen, rüttelt an Erfahrungen, Konventionen, Vorurteilen und Ängsten. Doch ein Zurück in das Deutschland der 1950er Jahre gibt es nicht; wer das wünscht und fordert verkennt, dass sich die Gesellschaft aus sich heraus in einer Weise neuen Lebens- und Liebesformen geöffnet hat, die kein Rechtsstaat ignorieren kann. Und so steht der Gesetzgeber in der Pflicht, die diverse Gesellschaft zu gestalten und zu schützen, Akzeptanz zu schaffen und Diskriminierung zu verhindern. Die oberste Prämisse dafür hat das Grundgesetz schon vor fast 70 Jahren in Artikel 1 formuliert: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Gemeint sind alle Menschen.