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KOLONIALISMUS : Koloss ohne Macht

In der Mitte des 19. Jahrhunderts gerät das chinesische Kaiserreich zunehmend unter den Einfluss der Großmächte. Vergessen ist dieses »Jahrhundert der Demütigung«…

12.08.2019
2023-08-30T12:36:26.7200Z
5 Min

Hongkong, 1. Juli 1997: Zu den Klängen von "God save the Queen" und begleitet von den traurigen Blicken des britischen Thronfolgers Prinz Charles wird über der Metropole der "Union Jack" eingeholt. Nach 156 Jahren britischer Herrschaft gehört die Kronkolonie wieder zu China. Mit den Übergabefeierlichkeiten endet - mit rund 50-jähriger Verspätung - auch symbolisch ein Kapitel in der Geschichte Chinas, das als "Jahrhundert der Demütigung" bis heute seine Spuren in der chinesischen Mentalität hinterlassen hat. "Die Chinesen wollen uns schlagen, weil es ein langes historisches Gedächtnis gibt. Das ist der Antrieb und der Ehrgeiz der Chinesen: Wir holen uns unseren Platz in der Welt zurück", verriet im Mai 2019 der BASF-Vorstandsvorsitzende Martin Brudermüller, der selbst zehn Jahre in Hongkong gelebt hat, in einem Interview.

Boxeraufstand Bremerhaven, 27. Juli 1900: Kaiser Wilhelm II. verabschiedet die deutschen Expeditionstruppen, die in China den sogenannten "Boxeraufstand" niederschlagen sollen. Seine Ansprache wird als "Hunnenrede" in die Geschichtsbücher eingehen: "Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutscher in China auf tausend Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!"

Das deutsche Expeditionskorps ist Teil einer internationalen Streitmacht, an der sich Großbritannien, Frankreich, Italien, Österreich-Ungarn, Russland, Japan und die USA beteiligen. Auslöser für die Militärintervention ist ein Aufstand in der chinesischen Bevölkerung gegen den politischen und wirtschaftlichen Einfluss ausländischer Mächte und die zunehmende Christianisierung.

Als der Aufstand der "Fäuste der Gerechtigkeit und Harmonie", so nennen sich die Boxer selbst, im Mai 1900 die Hauptstadt Peking erreicht, ausländische Diplomaten wie der Deutsche Clemens Freiherr von Ketteler erschossen werden und das Gesandtenviertel belagert wird, in dem sich Diplomaten, Missionare und chinesische Christen verschanzt haben, eskaliert die Situation. Selbst der kaiserliche Hof der Qing-Dynastie, die seit 1644 in China herrscht und den Boxern anfänglich noch Einhalt gebieten will, ergreift offen Partei für die Aufständischen. "Unterstützt die Qing und vernichtet die Fremden", hallt es in den Straßen von Peking.

Doch die Chinesen haben der militärischen Macht der Europäer, Amerikaner und Japaner nichts entgegen zu setzen. Bis zum Herbst wird der Aufstand niedergeschlagen und China bekommt einen demütigenden Vertrag diktiert, der den Einfluss der Fremdmächte weiter ausbaut.

Die Ursachen für den Boxeraufstand finden sich in einer Reihe von Demütigungen, die das einst so mächtige chinesische Kaiserreich seit Mitte des 19. Jahrhunderts hinnehmen muss. Den Anfang machen die Briten, die eine Öffnung des chinesischen Marktes erzwingen wollen. Der Handel mit dem Ausland ist streng reglementiert und darf lediglich über die südchinesische Stadt Kanton abgewickelt werden. Die Briten kaufen neben Tee vor allem teure Produkte wie Rohseide, Gewürze und Porzellan. Im Gegenzug verkaufen sie eher preiswerte Gebrauchsgüter. Bis 1820 erwirtschaften die Chinesen deshalb beständig einen Außenhandelsüberschuss gegenüber den Briten. Überhaupt: China ist Anfang des 19. Jahrhunderts noch die stärkste Wirtschaftsmacht der Erde.

Um ihre Handelsdefizite auszugleichen, beginnt die britische Ostindienkompanie das unter ihrem Monopol in Bengalen produzierte Rauschgift Opium nach China einzuführen. Sie tut dies allerdings illegal mit der Hilfe von Schmugglern und bestochenen chinesischen Beamten. Als die chinesischen Behörden gegen den Schmuggel vorgehen und in Kanton 20.000 Kisten Opium vernichten lässt, reagiert Großbritannien prompt militärisch. Mit für die Chinesen frustrierender Leichtigkeit werden sie von den Briten in diesem Ersten Opiumkrieg besiegt.

Ungleiche Verträge Im folgenden Vertrag von Nanking (1842) bekommt das Kaiserreich Bedingungen diktiert, die dessen Niedergang und eine rund 100-jährige Epoche der Fremdbestimmung einleiten. China muss Hongkong abtreten, große Summen an Reparationen leisten und vier weitere Häfen für den internationalen Handel öffnen. Zudem wird ein Zollsystem unabhängig von der Nationalität eingeführt. Der Nanking-Vertrag ist nur der erste in der Reihe der sogenannten "Ungleichen Verträge", die China in der Folgezeit auch mit Frankreich, den USA, Russland, Deutschland und Japan abschließen muss und seine Souveränität massiv beschneidet. Nach dem Zweiten Opiumkrieg (1857-1860) muss China weitere elf Häfen für den Handel öffnen, die Einrichtungen ausländischer Botschaften in der Hauptstadt Peking akzeptieren und Engländern und Franzosen Schifffahrtsrechte auf dem Jangtsekiang einräumen. Zudem wird christlichen Missionaren Bewegungs- und Handlungsfreiheit in China gewährt. In der Folge steigt die Zahl christlicher Missionare im Land auf etwa 2.500 und die der konvertierten Chinesen auf etwa 600.000.

Bis Ende des 19. Jahrhunderts schneiden sich immer mehr Staaten ihr Stück aus dem chinesischen Kuchen. Das Reich fällt unter eine Art halbkolonialer Fremdherrschaft. Das zaristische Russland besetzt das Amurgebiet und die mandschurische Küste, das aufsteigende Kaiserreich Japan verleibt sich Taiwan und die koreanische Halbinsel ein. Auch das Deutsche Reich bedient sich: Kaiser Wilhelm II. nimmt 1897 die Ermordung zweier deutscher Missionare zum Vorwand, um Tsingtau und die Bucht von Kiautschou besetzen zu lassen und China zu einem 99-jährigen Pachtvertrag zu zwingen.

Geschuldet ist der dramatische Abstieg des chinesischen Kaiserreichs jedoch nicht allein dem Hunger der Kolonialmächte und ihrer militärischen Überlegenheit, sondern einer Reihe innenpolitischer Probleme, Naturkatastrophen und eines explosiven Bevölkerungswachstums.

Taiping-Aufstand All dies führt zum Aufstand der Taiping-Bewegung (1851-1864) in Zentral- und Südostchina, der 20 bis 30 Millionen Opfer kostet. Diese Bewegung speiste sich aus christlichen, taoistischen, buddhistischen und konfuzianischen Gleichheitsidealen und forderte unter anderem die Abschaffung des Privateigentums, eine weitgehende Geichstellung von Mann und Frau und nicht zuletzt den Sturz der Qing-Dynastie.

Auch nach dem Sturz des letzten Kaisers und der Ausrufung der Republik (1912) kann China die Fesseln der Fremdbestimmung nicht lösen. Obwohl die junge Republik 1917 auf Seiten der Alliierten in den Ersten Weltkrieg eintritt, gelingt es ihr nicht, bei den Westmächten eine Auflösung der verhassten Ungleichen Verträge zu bewirken. 1927 stürzt das Land in den bis 1949 andauernden Bürgerkrieg zwischen der nationalchinesischen Kuomintang und den Kommunisten unter Mao Zedong, der lediglich durch ein Stillhalteabkommen während des Zweiten Weltkriegs unterbrochen wird. Bereits in den 1930er Jahren hatte Japan die Mandschurei besetzt und einen Marionettenstaat errichtet. Ab 1937 okkupiert Japan weitere große Teile Chinas. Endgültig abschütteln kann China die fremden Mächte erst nach dem Zweiten Weltkrieg und der Ausrufung der Volksrepublik China.