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Coronapandemie : Der unsichtbare Feind

Das Virus zwingt die Wirtschaft nieder und legt das öffentliche Leben lahm. Wie lange?

30.03.2020
2023-08-30T12:38:15.7200Z
8 Min

In der Coronakrise ist schon nach wenigen Wochen nichts mehr so, wie es einmal war. In einem bemerkenswerten Tempo verändert sich das öffentliche Leben, muss sich verändern, um die weitere Ausbreitung des neuen Coronavirus (Sars-CoV-2) einzudämmen. Das scheinbare Paradox lautet: Sozial verhält sich, wer soziale Kontakte meidet. Weniger reisen, weniger Treffen, denn jeder Kontakt zwischen Menschen birgt das Risiko einer Infektion und die Möglichkeit des Beginns einer neuen Infektionskette. Die Sicherheitsauflagen werden drastischer, ihre Halbwertszeit immer kürzer. Was gestern noch völlig überzogen schien, wirkt heute schon angemessen und sinnvoll.

Für ältere Leute, die ohnehin oft wenige soziale Kontakte pflegen, ist die Epidemie besonders hart, denn sie sollen auf Treffen mit Freunden oder Verwandten verzichten. Virologen werden nicht müde, auf die Risikogruppen hinzuweisen: Ältere mit Vorerkrankungen sowie chronisch Kranke mit geschwächtem Immunsystem. Um diese Personengruppen zu schützen, ist Umsicht gefragt und Solidarität der Jüngeren, die zumeist nicht von schweren Verläufen der Lungenkrankheit Covit-19 betroffen sind.

Riesige Bugwelle Die Entwicklung der Pandemie lässt sich anhand des aktuell verfügbaren Zahlenmaterials ebenso anschaulich wie dramatisch darstellen und beinhaltet eine klare Botschaft: Es wird gerade schlimmer, nicht besser. Täglich nimmt die Zahl der Infizierten in Europa deutlich zu, die Kurven werden steiler. Inzwischen wird Europa als das "Epizentrum" der Krise angesehen, während in China die Fallzahlen nach offiziellen Angaben stagnieren oder rückläufig sind. Angeblich wurden neue Fälle zuletzt nur noch "importiert".

In Italien, Spanien, Deutschland, Frankreich und der Schweiz sowie abgeschwächt in den anderen europäischen Staaten türmt sich die Bugwelle der Infektionen bedrohlich auf. Vor allem in Italien ist das Gesundheitssystem völlig überlastet, verzweifelte Ärzte und Pfleger senden via Internet Hilferufe in alle Welt. Auch Spanien steuert auf eine Krankenhausnotlage zu.

Markante Unterschiede gibt es in den Ländern bei der Zahl der Todesfälle durch die Epidemie. So sind in Italien und Spanien inzwischen mehr Tote zu beklagen als in China, während das Virus in Deutschland bislang relativ wenige Tote gefordert hat. Die schmucklose und massenweise Bestattung der Toten, der nächtliche Transport der Särge auf Militär-Lkw in Italien, ist zum Schreckensbild der Seuche geworden und schürt nicht nur dort Ängste. Nach Ansicht des Zivilschutzes in Italien hängt die hohe Todesrate damit zusammen, dass die Bevölkerung im Schnitt relativ alt ist und in vielen Haushalten mehrere Generationen unter einem Dach leben.

Nach einer Studie des italienischen Instituts für Gesundheit (ISS) auf der Basis von rund 2.000 Toten lag das Durchschnittsalter der Verstobenen bei 79,5 Jahren, zu 70 Prozent waren es Männer. Die weitaus meisten Opfer hatten eine oder mehrere Vorerkrankungen, am häufigsten Bluthochdruck, Diabetes und koronare Herzkrankheiten. Die mit Abstand häufigsten Symptome für die Infektion waren der Studie zufolge Fieber, Atemnot und Husten.

In Deutschland haben sich Bund und Länder auf umfangreiche Vorschriften und Regeln verständigt, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern, und damit das öffentliche Leben in weiten Teilen lahmgelegt. Freizeit- und Kultureinrichtungen sind dicht, der Tourismus ist quasi eingefroren, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen reglementieren den Besucherverkehr.

Strenge Auflagen Als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sich unlängst via TV direkt an die Bürger wandte, schwante auch dem letzten Skeptiker, dass die Lage ernst ist. Bevor Merkel auf die Auflagen zu sprechen kam, listete sie in ihrer Ansprache erst einmal jene Dienstleistungen auf, die auf jeden Fall bestehen bleiben sollen. Das betrifft vor allem Industrie und Wirtschaft und damit die Versorgung der Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigen. Der Lebensmitteleinzelhandel, Apotheken, Tankstellen, Banken oder Poststellen sollen geöffnet bleiben. Die Supermärkte dürfen jetzt auch sonntags öffnen, die großen Ketten machen bislang aber keinen Gebrauch davon, weil die Mitarbeiter nach Angaben des Handelsverbandes völlig erschöpft sind vom Andrang der Kunden in den vergangenen Wochen. Dennoch:

Die zentrale Botschaft lautet, Versorgungsengpässe sind nicht zu befürchten, Hamsterkäufe ergo nicht nötig und auch nicht hinzunehmen. Der Appell entfaltet allerdings mancherorts kaum Wirkung, Regale in Discountern sind teilweise ganz schnell leer, Toilettenpapier schwingt sich aus unbekannten Gründen zum neuen Goldstandard auf.

Während die einen aus Angst vor einer eskalierenden Krise hamstern, vergnügten sich bis vor kurzem andere im Freien ungeniert bei "Coronapartys". Die Appelle, Solidarität mit Alten und Kranken zu zeigen, verpufften bisweilen, als wäre das alles nur ein Videospiel im Internet. Bund und Länder reagierten mit rigiden Kontaktsperren, die Merkel nach einer Videokonferenz mit den Länderchefs im Detail verkündete, bevor sie sich selbst in Quarantäne begab, nachdem sie von einem infizierten Arzt behandelt worden war. Die Coronatests bei ihr fielen negativ aus.

Die von Merkel verkündete neun Punkte umfassende Liste an Restriktionen (siehe Grafik) beinhaltet die Regel, dass maximal zwei Menschen gemeinsam unterwegs sein sollen, es sei denn, es handele sich um Personen aus demselben Haushalt. Bürger werden angehalten, Kontakte zu anderen auf ein Minimum zu reduzieren und in der Öffentlichkeit einen Mindestabstand von 1,5 bis 2 Metern einzuhalten. Öffentliche und private Feiern in Gruppen werden untersagt, Gastronomiebetriebe geschlossen. Bei absichtlichen Verstößen gegen die Auflagen drohen empfindliche Strafen. Die Vorschriften gelten für mindestens zwei Wochen. Rechtsgrundlage für die von Ländern und Kommunen durchgesetzten Auflagen ist das Infektionsschutzgesetz (IfSG), das nun geändert wurde, um dem Bund mehr Durchgriffsrechte zu geben.

In anderen Staaten gelten inzwischen noch wesentliche schärfere Ausganssperren, so zum Beispiel in Frankreich und Großbritannien. In manchen Ländern wird zudem das Militär zur Unterstützung ziviler Einsatzkräfte herangezogen. Auch die Bundeswehr steht bereit für den Kampf gegen den unsichtbaren Feind. Gefragt ist Hilfe bei organisatorischen und logistischen Aufgaben. Zudem können bestimmte medizinische Kapazitäten der Bundeswehr genutzt werden. So soll in Berlin auf dem Messegelände ein provisorisches Notfallkrankenhaus mit 1.000 Betten für Coronapatienten entstehen.

Politiker müssen in der Krise auch persönlich umdenken und sich anpassen, um das Infektionsrisiko zu verringern. Vermehrt wird auf Videokonferenzen und andere digitale Kommunikationsformen zurückgegriffen, während auf Sitzungen und Versammlungen aller Art möglichst verzichtet wird. Der Bundestag präsentiert sich in dieser Krisenlage ausgedünnt, aber handlungsfähig. Mitarbeiter und Abgeordnete bleiben, wenn möglich, zu Hause, die Sitzungswoche wurde auf ein Rumpfprogramm reduziert.

Manche Leute trauern ihrem geliebten Fußball hinterher oder dem abgesagten Konzert, bei anderen geht es schlicht um die Existenz. Die Touristikbranche steckt in der größten Krise aller Zeiten, Hotelbetreiber sind ebenso schwer getroffen wie Restaurantbesitzer, kleine Dienstleister und große Fluggesellschaften. Außenminister Heiko Maas (SPD) verkündete erstmals eine globale Reisewarnung, die EU verhängte ein Einreiseverbot, wie zuvor die USA. Das Außenamt koordiniert Rückholaktionen für Bundesbürger im Ausland. Maas sprach von einem "Stresstest für alle".

Geld für alle US-Präsident Donald Trump ging rhetorisch noch einen Schritt weiter und erklärte dem Coronavirus den Krieg. Die US-Regierung verständigte sich mit dem Kongress auf ein gigantisches Hilfspaket im Umfang von rund zwei Billionen Dollar. Trump will unter anderem "Helikoptergeld" in Form von Barchecks an die Bevölkerung verteilen, um den Konsum zu beleben, während die Mängel im Gesundheitssystem bei steigenden Fallzahlen immer deutlicher zutage treten. In New York steigt die Zahl der Infizierten und Toten sprunghaft, von chaotischen Zuständen in den Kliniken ist die Rede. Manche Ärzte sprechen von einem Coronaeinsatz "an der Front" und verlangen eine adäquate Schutzausrüstung.

Industrie stockt Die Autoindustrie samt Zulieferern steckt gleichfalls in der Klemme, weil Lieferketten ausfallen, Mitarbeiter krank sind und die Nachfrage stockt. Die Automobilkonzerne haben die Produktion in Deutschland befristet eingestellt, während in China die Fertigung langsam wieder anläuft. Für die Luftfahrtbranche wird die Luft dünn, Staatshilfen könnten bei Airlines greifen, bei der Lufthansa steht ein Großteil der Flotte still. Von der Krise schwer gezeichnet sind auch Klein- und Kleinstbetriebe, die um das Überleben kämpfen, weil ihr Geschäft zum Erliegen gekommen ist und sie oftmals nur auf geringe finanzielle Reserven zurückgreifen können.

Volkswirte sagen voraus, dass eine globale Rezession nicht mehr abzuwenden ist, an den Börsen wird dieses Szenario mit heftigen Kurseinbrüchen vorweggenommen, die so schnell und stark ausfallen wie nie zuvor. Während Wirtschaftsfachleute und Börsianer noch nicht richtig abschätzen können, wie hart die Einschläge für die Branchen sein werden, reagieren Einzelstaaten, die EU und die Europäische Zentralbank (EZB) mit beispiellosen monetären Schutzschirmaktionen.

Rettungsschirme Neuerdings bemühen Spitzenpolitiker in Europa kampferprobte Formulierungen des früheren EZB-Präsidenten Mario Draghi aus der Zeit der Finanz- und Bankenkrise, um klarzustellen, dass zur Überwindung der aktuellen Notlage alle Möglichkeiten ohne Limit ausgeschöpft werden sollen. Da ist wieder von der "Bazooka" die Rede und von "whatever it takes". Die EZB legte ein gigantisches Notfallprogramm im Umfang von 750 Milliarden Euro auf, Banken können sich billiges Geld besorgen und günstige Kredite an Unternehmen weiterreichen. Insgesamt erreicht der Schutzschirm eine Größe von rund 1,1 Billionen Euro. "Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliches Handeln", erklärte Draghis Amtsnachfolgerin Christine Lagarde.

Der Bundestag beschloss ein riesiges Coronaschutzpaket, das über neue Schulden finanziert wird (siehe Folgeseiten). Für die zusätzliche Verschuldung wird die Notfallregel bei der Schuldenbremse aktiviert. Nach sechs Jahren bedeutet dies den Abschied von der "schwarzen Null". Auf EU-Ebene wird der Euro-Stabilitätspakt ausgesetzt, eine höhere Verschuldung der Staaten ist also möglich.

Wirtschaftsexperten befürchten, dass die Schwemme an billigem Geld eine Staatsschuldenkrise auslösen könnte, auch die Verschuldung von Unternehmen insbesondere in den USA wird kritisch gesehen. Dort zeichnet sich eine Kündigungswelle gefolgt von steigender Arbeitslosigkeit ab. In Deutschland soll eine Pleitewelle unbedingt verhindert werden, der Schutzschirm erstreckt sich daher auch auf kleine und mittelgroße Firmen. Bei großen Unternehmen ist eine direkte, zeitlich begrenzte Beteiligung des Staates denkbar. Ob alle Banken die Krise schadlos überstehen, wird von manchen Experten angezweifelt.

Nach Berechnungen des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung wird die Coronakrise enorme Kosten verursachen durch Produktionsausfälle und Arbeitslosigkeit. "Die Kosten werden voraussichtlich alles übersteigen, was aus Wirtschaftskrisen oder Naturkatastrophen der letzten Jahrzehnte in Deutschland bekannt ist", sagte Ifo-Präsident Clemens Fuest. Die Wirtschaftsleistung könnte den Berechnungen zufolge um bis zu 20,6 Prozentpunkte oder rund 729 Milliarden Euro schrumpfen.

Vager Ausblick Auf die Kernfrage, wie lange die Viruskrise andauern wird, gibt es noch keine verlässliche Antwort. Einige politische Stellungnahmen dazu sind eher von Hoffnung als von Fakten geprägt. Derweil werden bereits in verschiedenen Ländern mögliche Impfstoffe und Medikamente gegen das Coronavirus getestet. In den USA ließ sich erstmals eine Frau einen Impfstoff gegen das neue Virus injizieren. Die klinische Testphase habe in Rekordzeit begonnen, erklärte der Direktor des Nationalen Instituts für Infektionskrankheiten, Anthony Fauci, der in den USA als Stimme der Vernunft wahrgenommen wird und sich auch nicht scheut, den Präsidenten mit unsympathischen Fakten zu konfrontieren. Die Entwicklung eines Impfstoffs werde sich gleichwohl über mindestens ein bis anderthalb Jahre hinziehen.

Ein Lichtblick schien zuletzt aus Italien zu kommen. Dort flachte die Infektionskurve erstmals vorübergehend ab, bevor sie dann wieder stieg. Die vage Hoffnung besteht, dass schon wenige Wochen nach dem Einfrieren des öffentlichen Lebens erste Erfolge im Kampf gegen das Virus sichtbar werden. Italiener und Spanier setzen darauf, dass sie den Höhepunkt der Krise womöglich schon gesehen haben.

Alle anderen hoffen das auch, denn Politiker sorgen sich vor den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen einer längeren Auszeit, zumal die Akzeptanz für die angeordneten Einschränkungen nachlassen könnte. Rufe nach einer Exit-Strategie werden laut, die Zeit nach Ostern wird genannt. Aber allen ist klar: Es zählen Fakten, nicht Gefühle.