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Interview : Durch die nationale Brille

Kolonialkritische Töne und die Perspektiven der Betroffenen kommen im Schulunterricht zu kurz, sagt Schulbuchforscher Lars Müller.

06.01.2020
2023-09-24T20:00:42.7200Z
4 Min

Herr Müller, inwiefern kommt das Thema "Deutschlands koloniales Erbe" in den Schulbüchern und Fächern in Deutschland vor?

Das Thema Imperialismus ist seit der Gründung der Bundesrepublik fester Bestandteil des Geschichtsunterrichts in allen Bundesländern. Es wird in der Regel zusammen mit dem Ersten Weltkrieg behandelt und beginnt mit der "Aufteilung" des afrikanischen Kontinents und den Konflikten zwischen den Kolonialmächten. Teil dieses Kapitels ist oft auch das Thema koloniales Erbe. Es gibt Exkurse über Straßen-Umbenennungen, Rassismus in der Gesellschaft oder verschiedenste Denkmäler. Die Lehrpläne der einzelnen Bundesländer unterscheiden sich da nur in Details. Auch kann das Thema im Geographie-, Gemeinschaftskunde- oder Politikunterricht eine Rolle spielen, etwa wenn die Kolonisation oder Wirtschaftssysteme behandelt werden.

Was genau bekommen Schüler über den deutschen Kolonialismus vermittelt?

Lehrpläne geben nicht im Detail vor, was oder wie das Thema unterrichtet werden muss. Sie geben meist nur eine grobe Struktur vor, nennen bestimmte Begriffe, Persönlichkeiten oder Zeiträume. Die Schulbücher und Lehrkräfte müssen das dann mit Inhalt füllen. Meist geht es erst darum, wie die europäischen Mächte Afrika "in Besitz nahmen" und dann wird der Konflikt zwischen dem Deutschen Reich und den Bewohnern der Kolonien thematisiert. Fokussiert wird oft auf das heutige Namibia und den Deutsch-Herero-Krieg. Anschließend kommen meist die Exkursionskapitel. Prüfungsrelevant ist aber nur die Geschichte des Imperialismus, sodass es vorkommt, dass die Exkurse aus Zeitnot übersprungen werden.

Findet sich in den Büchern inzwischen die Perspektive der Betroffenen?

Bei der Beschreibung, wie der Kontinent unter den europäischen Akteuren aufgeteilt wurde, spielen Afrikaner und die afrikanische Geschichte keine Rolle. Viele Schulbücher sprechen von "dem" Afrika oder "den" Afrikanern. Dass es eine Reichsbildung und funktionierende Gesellschaften gab, bevor die Europäer kamen, wird nicht deutlich. Geht es beispielsweise um den Deutsch-Herero-Krieg, gibt es Zitate und Abbildungen von Hereros und Namas. Diese Zusammenstellung reicht aber meist nicht aus, damit die Personengruppe als selbstbestimmte Akteure in Erscheinung treten. Das heißt, sie werden weitestgehend als Opfer dargestellt, etwa wenn sie in Ketten liegen oder abgemagert gezeigt werden.

Die meisten Schulbücher werden nur überarbeitet und nicht neu geschrieben. Spielt das auch eine Rolle dabei?

Ja, Schulbücher sind überarbeitete Versionen von überarbeiten Büchern. Man muss sagen, dass es keine abgesicherte wissenschaftliche Prüfung oder eine strukturierte Einbindung der Fachwissenschaft in die Schulbuchproduktion gibt. Veränderungen finden nur schrittweise statt, es werden also mal eine Doppelseite, Quellen oder Absätze des Autorentextes ausgetauscht. Dabei versuchen Autoren oft aktuelle Ereignisse aufzugreifen. Die Rede der ehemaligen Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) 2004 zum Völkermord an den Herero wurde bereits kurze Zeit später in Schulbücher aufgenommen. In den vergangenen zwei bis drei Jahren beobachten wir, dass das wieder abnimmt.

Wie sensibel gehen die Geschichtsbücher denn mit Sprache um?

Bestimmte Begriffe werden weniger benutzt und schrittweise gestrichen. Begriffe, von denen die Autoren denken, dass sie notwendig sind, die sie aber nicht mehr benutzen wollen, werden in Anführungsstriche gesetzt. Weil eine Erklärung fehlt, denke ich, dass den Schülern nicht bewusst ist, warum die Anführungszeichen da stehen. Dazu kommt, dass in Fächern wie Biologie oder Geographie Begriffe wie "Rasse" oder "Stamm" noch sehr viel länger unkritisch benutzt wurden.

Ist ein weiteres Problemfeld auch die Ausbildung der Lehrkräfte?

Ja, das koloniale Erbe ist kein verpflichtendes Thema in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften. Dazu kommt, dass es keinen Mangel an Materialien gibt, nur sind sie sehr verstreut und viele Lehrkräfte haben oftmals zu wenig Wissen, diese zu bewerten. Zudem wird Geschichte von immer mehr fachfremden Lehrkräften unterrichtet. Ich plädiere dafür, dass in der Lehrerausbildung übergreifende Themen wie Rassismus oder Diversität stärker berücksichtigt werden.

Gibt es auf der europäischen Ebene Projekte, von denen gelernt werden kann?

Der Imperialismus war zwar ein europäisches Phänomen, er wird immer noch sehr stark durch die nationale Brille unterrichtet: England fokussiert beispielsweise auf Indien, Deutschland auf die Geschichte der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Dazu kommt, dass wir sehr unterschiedliche Didaktiken in Europa haben. Es gibt ein deutsch-französisches oder ein deutsch-polnisches Schulbuchprojekt, bei denen sich binational auf einen Themenkanon und eine Didaktik geeinigt wird. So etwas für 28 Länder zu entwickeln, da sind wir noch lange nicht.

Gibt es weitere Initiativen, die Hoffnung machen?

Ja, bereits in den 1980er Jahren gab es an der Universität Bremen ein Projekt, in dem versucht wurde, mit Personen aus Namibia zusammen Materialien zu entwickeln - daran wurde aber nicht angeknüpft. Auf europäischer Ebene stellt Euroclio, der europäische Geschichtslehrerverband, im Projekt "Historiana" Quellen über den Beitrag der Kolonien zum Ersten Weltkrieg zur Verfügung. Auch das Institut für diskriminierungsfreie Bildung hat Fortbildungen für Lehrkräfte durchgeführt. Es gibt verschiedene Projekte, die durch teilnehmende Beobachtung oder Interviews untersuchen, wie das Themenfeld in der Unterrichtspraxis behandelt wird. Die Ergebnisse dieser Projekte müssen dann in die Unterrichtsmaterialien zurückgeführt werden. Dass Deutschland wesentlich diverser wird, muss sich auch in den Schulbüchern und im Unterrichtskanon widerspiegeln.

 

Dr. des. Lars Müller ist assoziiertes Mitglied des Leibniz Institut für internationale Schulbuchforschung