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KULTUR : Kein Vergessen

Bundestag beschließt Dokumentationszentrum zu den deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg

12.10.2020
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4 Min

Der Bundestag hat ein Ausrufezeichen in der Erinnerungspolitik gesetzt. An vergangenen Freitag beschloss er die Errichtung einer Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte zur Geschichte und Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Herrschaft in den damals besetzten Ländern Europas. Dabei sollen auch Opfergruppen berücksichtigt werden, die bislang weniger beachtet wurden in der Aufarbeitung. Den entsprechenden Antrag der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD (19/23126) verabschiedete der Bundestag ohne Gegenstimmen - lediglich die AfD-Fraktion enthielt sich demonstrativ der Stimme.

Mit der Annahme des Antrags fordert das Parlament die Bundesregierung auf, eine Arbeitsgruppe aus Wissenschaftlern einzusetzen, die einen Realisierungsvorschlag für die Dokumentationsstätte zu erarbeiten. Dabei soll auf die Expertise der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas zurückgegriffen werden und die Gedenkstättenkonzeption des Bundes sowie die Arbeit der Gedenkstätten und Geschichtsmuseen berücksichtigt werden. Bis Ende des Jahres soll die Bundesregierung dem Bundestag einen Zeit- und Maßnahmenplan vorlegen.

Das eindeutige Ergebnis der Abstimmung über den Koalitionsantrag verdeckt allerdings, dass es trotz der großen Übereinstimmung in der Sache über die Fraktionsgrenzen hinweg dann doch wieder Zwist gab. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hatten einen eigenen Antrag zur Errichtung der Dokumentationsstätte (19/23161) eingebracht, der bis auf wenige Sätze wortgleich mit dem Koalitionsantrag ist. Dieser Antrag wurde allerdings mit der Stimmenmehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt. Zudem hatten sich die Oppositionsfraktionen übereinstimmend dafür ausgesprochen, die Anträge zur weiteren Beratung in den Kulturausschuss zu überweisen. Aber auch dieses Ansinnen lehnten Union und Sozialdemokraten ab und beharrten auf sofortige Abstimmung.

Kritik an der Koalition Der kulturpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Erhard Grundl, warf der Koalition in der Debatte dann auch prompt vor, ihr Verhalten sei "kleingeistig". Auch der FDP-Kulturpolitiker Thomas Hacker monierte, die Regierungskoalition habe die anderen demokratischen Fraktionen im Bundestag nicht bei der Formulierung des Antrages eingebunden und damit eine Chance vertan.

Abseits dieser Verstimmung herrschte in der Sache jedoch weitgehende Einigkeit. "Das Vergessen droht", mahnte die CDU-Parlamentarierin Gitta Connemann zum Auftakt der Debatte. Die Zeitzeugen würden sterben. Ihr Zeugnis sei allerdings unverzichtbar für das Erinnern und die historische Aufarbeitung für den Zweiten Weltkrieg und die Grausamkeiten in vielen Ländern Europas während der deutschen Besatzung. Das Tagebuch der Anne Frank stehe exemplarisch für die Bedeutung der Zeitzeugnisse. Connemann verwies darauf, dass vielen Deutschen trotz der Aufarbeitung der NS-Verbrechen heute nicht mehr bewusst sei, wie unvorstellbar das Leid in den besetzten Ländern gewesen sei. Dass die Ukraine beispielsweise über ein Viertel ihrer Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg verloren habe oder dass die deutsche "Hungerstrategie" in Griechenland zum Tod von etwa 360.000 Menschen geführt habe. "Verstehen wir das heute noch?", fragte Connemann. Auch um ein Verständnis für das Leid der Menschen zu schaffen, sei die Dokumentationsstätte so wichtig.

Thomas Hacker mahnte, dass Erinnerungskultur "kein Ablasshandel" sein dürfe. Sie sei wichtig für "unsere Zukunft". Jede Generation müsse erneut ihre Lehren aus der Vergangenheit ziehen. Dafür brauche es eine solche Dokumentationsstätte.

Der Parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion, Jan Korte, bescheinigte der Koalition, ihr Antrag sei ein "geschichtspolitischer Meilenstein". Er sei aber auch das Ergebnis einer gut 60-jährigen geschichtspolitischen Debatte in Deutschland. Es sei eine "Lebenslüge" der Bundesrepublik, dass die Aufarbeitung der deutschen Verbrechen während des Nationalsozialismus eine Erfolgsgeschichte sei. So seien nach 1945 nur wenige NS-Verbrecher zur Verantwortung gezogen worden. Korte erinnerte in diesem Zusammenhang an die Wehrmachtsausstellung in den 1990er Jahren. Der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) habe den Soldaten der Bundeswehr noch verboten, die Ausstellung über die Verstrickung der Wehrmacht in die nationalsozialistischen Verbrechen zu besuchen.

AfD moniert Selbsthass Widerspruch zum Antrag der Koalition kam lediglich aus der AfD. Deren kultupolitischer Sprecher, Marc Jongen, führte aus, seine Fraktion können angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen im deutschen Namen nicht gegen den Antrag stimmen. Den Millionen von Opfern gebühre "ehrendes und trauerndes Gedenken". Umgekehrt könne die AfD aber auch nicht mit Ja stimmen. Dies liege an den Untertönen des Antrages und der Häufung von "Superlativen und Horrorbegriffen". Dies lasse an den an den Philosophen Hermann Lübbe denken, der vom "Sündenstolz der Deutschen" gesprochen habe. Mit Sündenstolz, der bis zum "Selbsthass" reiche, oder mit "hypermoralischem Büßertum" könne man sich nicht von den Sünden reinwaschen, sagte Jongen. Der jüdische Publizist Henryk M. Broder habe das "moralisch Unreine" in dieser Erinnerungspolitik verortet und vom "deutschen Erinnerungswahn" gesprochen: Die gleichen Leute, die im Nachhinein Auschwitz verhindern wollten, so habe Broder moniert, würden sich am nächsten Tag "in unempathischer Israelkritik und Antizionismus" üben.

Die Sozialdemokratin Marianne Schieder hielt der AfD entgegen, ihre Haltung in dieser Frage sei "inakzeptabel". Sie hoffe, dass die Dokumentationsstätte auch einen Beitrag leisten kann, der "populistischen Instrumentalisierung der Geschichte" entgegenzutreten. Und Erhard Grundl bescheinigte der AfD, es werde eben kein Schlussstrich unter die Aufarbeitung der deutschen Verbrechen im Nationalsozialismus gezogen.