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André Brodocz : »Das ist eine Chance«

Der Politikwissenschaftler über Viel-Parteien-Parlamente und die künftige Regierungsbildung auf Länderebene

17.02.2020
2023-08-30T12:38:13.7200Z
5 Min

Herr Brodocz, die Wahl des FDP-Kandidaten Kemmerich zum Ministerpräsidenten in Thüringen mit den Stimmen der AfD hat ein politisches Beben ausgelöst. Ist die Aufregung berechtigt?

Die Aufregung ist schon berechtigt. Wir haben zum ersten Mal eine gemeinsame Konstitution einer Regierung mit der AfD. Das haben alle anderen Parteien bis dahin kategorisch ausgeschlossen. Insofern ist das ein Einschnitt und hat bei der CDU aufgrund des Unvereinbarkeitsbeschlusses, der eine Zusammenarbeit mit AfD und Linken verbietet, die zentrale Frage aufgeworfen, inwiefern sich die Landesverbände noch an Beschlüsse der Bundes-CDU halten.

War das eine absehbare Inszenierung oder eine Überraschung?

Das kommt auf den Zeitpunkt an. Als am Wochenende vor der Wahl die AfD einen parteilosen Kandidaten präsentierte, war klar, jetzt wird hier offensiv ein Angebot gemacht an CDU und FDP. Als am Montag die FDP ankündigte, ihren Kandidaten auch im dritten Wahlgang zur Wahl zu stellen, sofern der AfD-Kandidat im Rennen bliebe, war allen Beteiligten bewusst, dass man damit rechnen muss, dass die AfD im dritten Wahlgang geschlossen für Thomas Kemmerich stimmt. In den Fraktionen von CDU und FDP wurde das offen diskutiert. Das kam nicht überraschend.

Ist es nicht legitim von der AfD, den parlamentarischen Spielraum zu nutzen?

Man muss tatsächlich sagen, dass alles, was die AfD bei dieser Ministerpräsidentenwahl getan hat, völlig legitim ist. Sie hat einen eigenen Kandidaten aufgestellt, der im zweiten Wahlgang keine Stimmen bekommen hat von den anderen Parteien. Dass sie ihren eigenen Kandidaten dann nicht zurückgezogen hat, liegt schlicht daran, dass die FDP ihren Kandidaten sonst nicht aufgestellt hätte. Man kann der AfD kein hinterlistiges Spiel vorwerfen, sie hat mit offenen Karten gespielt und angekündigt, sie würde jeden aus ihrer Sicht bürgerlichen Kandidaten von CDU und FDP mitwählen.

Wird sich die AfD künftig häufiger rein taktisch verhalten?

Alle Parteien verhalten sich taktisch, verfolgen Ziele und legen sich Strategien zurecht. Das ist nicht verwerflich. Wir müssen auch künftig damit rechnen, dass die AfD das Verhalten der anderen Parteien in ihre Taktik mit einbezieht. Das ist sehr typisch für politisches Handeln.

Halten Sie eine Zusammenarbeit von Union und AfD dauerhaft für ausgeschlossen?

Die CDU wird vermutlich auf Bundesebene bei ihrem Unvereinbarkeitsbeschluss bleiben. Denkbar wäre, dass ein neuer CDU-Bundesvorsitzender den Landesverbänden mehr Flexibilität lässt in Hinsicht auf bestimmte Kooperationen. Vielleicht werden Koalitionen ausgeschlossen, aber womöglich nicht jegliche Form der Zusammenarbeit in einzelnen Sachfragen.

Die CDU schließt auch eine Zusammenarbeit mit der Linken aus, damit reduzieren sich die Koalitionsoptionen. Was würden Sie der Union in dieser verzwickten Lage empfehlen?

Für die Union ist das eine schwierige Situation. Sie steht vor der Frage, ob sie weiter einen Platz in der Mitte anstrebt. Damit müsste sie sich aus strategischen Gründen offen zeigen für Koalitionen mit der Linken. Oder sie rückt nach rechts und öffnet sich dort. Es gibt aber keine Strategie, die für die CDU sicher zu einem besseren Wahlergebnis führen würde. Das ist das Dilemma und das wird wahrscheinlich dazu führen, dass die CDU bei Wahlen künftig nicht mehr als 30 Prozent bekommt.

Franz Josef Strauß hat einst gesagt, rechts von der CSU dürfe es keine demokratische legitimierte Partei geben, nun sitzt die AfD im Bundestag und in den Landesparlamenten. Was ist denn da passiert?

Die CDU hat sich unter Parteichefin Angela Merkel modernisiert und für Interessenlagen in expandierenden Großstädten geöffnet. Dadurch hat sie bestimmte Werte und Interessen, die eher in ländlichen und kleinstädtischen Gebieten vertreten sind, vernachlässigt. Aus machtpolitischen Gründen hat sie einen Akzent verschoben und damit rechts von der CDU eine Öffnung bewirkt.

AfD und Linke sind im Osten bei Wahlen erfolgreich. Warum stärken die Wähler die politischen Ränder?

Wir beobachten in der Bevölkerung in bestimmten Fragen eine Polarisierung, es wird nicht mehr nach der Mitte und einer Versöhnung gestrebt. Es gibt Konflikte, die unteilbar scheinen, man ist entweder dafür oder definitiv dagegen. So werden Migrations- oder Klimafragen zur Identitätspolitik. Wer offen ist für Zuwanderung, ist für die Gegner schnell ein Volksverräter. Das führt zu dieser Explosivität und der Unversöhnlichkeit, die wir gerade sehen.

Wie beurteilen Sie die Aussichten für die FDP nach dem Kurzauftritt von Kemmerich als Ministerpräsident?

Für Thüringen sieht es in Umfragen kritisch aus. Hier würde die FDP bei einer Neuwahl vermutlich nicht mehr in den Landtag gewählt. Wenn es bei der anstehenden Landtagswahl in Hamburg für die FDP ein Desaster gäbe, würde noch einmal das Krisenmanagement der Bundes-FDP in Thüringen infrage gestellt. Dann könnte auch der Bundesvorsitzende Christian Lindner wieder unter Druck geraten.

Wird es künftig häufiger Minderheitsregierungen geben?

Das ist nicht auszuschließen. Wir haben heute oft fünf oder sechs Parteien in den Parlamenten und neuerdings Drei-Parteien-Koalitionen. In Thüringen hat es nicht einmal dazu gereicht, dass CDU, SPD, Grüne und FDP zusammen eine Mehrheit stellen konnten. Wir haben bislang wenig Erfahrung mit Minderheitsregierungen, selten haben sie länger als ein Jahr gehalten. Das kann in einer Übergangsphase funktionieren, in der sich das Parteiensystem neu strukturiert .

Man sollte aber darüber nachdenken, ob es sinnvoll ist, dass eine Regierung immer erst aus der Mitte des Parlaments gewählt wird, denn es wird immer schwieriger, stabile Regierungen zu bilden. Vielleicht wäre es besser, auf Landesebene ein Präsidialregierungssystem auszuprobieren. In dem Fall würde zunächst der Ministerpräsident gewählt und müsste sich dann in einem separat gewählten Parlament die Mehrheiten suchen für einzelne Sachfragen. Die Vielparteienkoalitionen müssen sich ja immer in allen Fragen einigen, das ist sehr schwierig und lässt kaum Flexibilität zu.

Also eine Krise des Parlamentarismus würden Sie nicht sehen, das wäre eher eine Chance?

Das könnte in der Tat eine Chance sein. Die Vielzahl der Parteien in den Parlamenten zeigt, dass die Bürger bereit sind, sich parteipolitisch zu organisieren. Das ist Ausdruck eines vitalen Parlamentarismus. Eine plurale Gesellschaft von 80 Millionen Menschen kann kaum nur durch drei oder vier Parteien gut repräsentiert werden.

Wie gefährlich ist das Machtvakuum bei der CDU nach dem Rückzug der Parteichefin Kramp-Karrenbauer?

Wenn die CDU das Machtvakuum schnell auflöst und die Kanzlerkandidatur zügig feststeht, wird es gefährlich für die Große Koalition in Berlin, wenn das Machtvakuum länger andauert, könnte es die CDU zerreiben.

Machen Sie sich Sorgen um den Fortbestand der Demokratie?

Nein. Wir sehen, wie viele Bürger sich mit der Demokratie identifizieren, auch in Thüringen. Es sind sich nicht alle einig darüber, wie das mit der Ministerpräsidentenwahl gelaufen ist, aber deswegen wird die Demokratie nicht in Frage gestellt.

Das Gespräch führte Claus Peter Kosfeld .

André Brodocz ist Professor für Politische Theorie an der Universität Erfurt.