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KRIM : An der Schwelle zur Eskalation

Entlang der Grenze der von Russland annektierten Halbinsel herrscht angespannte Ruhe

10.05.2021
2023-08-30T12:39:36.7200Z
8 Min

Noch immer keine Entwarnung?", fragt Soja ihren jüngsten Sohn durch die Autoscheibe. Achtem sitzt hinten in dem altersschwachen Schiguli mit dem Nummernschild "AK" der Autonomen ukrainischen Republik und schüttelt besorgt den Kopf. Vor mehr als einer Stunde hat die tatarische Familie Achtems Lieblingsonkel an die Grenze zu der seit Frühling 2014 russisch besetzten Halbinsel Krim gefahren. Den ukrainischen "Kontrollpunkt Einreise-Ausreise" (KPVV) bei der Ortschaft Tschongar hat der Onkel schon lange passiert. Auch die drei Kilometer Fußweg über die Lagunenlandschaft des salzig-modrigen Sywasch hat er zurückgelegt. Nun steht er am russischen Grenzübergang. Achtems Vater Ildar ist nervös: "Wir warten, bis wir sein Okay haben, dass alles gut gelaufen ist, dann fahren wir wieder nach Hause."

Zuhause liegt für die Familie bei der Gebietshauptstadt Cherson, rund 150 Kilometer Richtung Nordwesten im ukrainischen Hinterland, wo die Familie als Binnenflüchtlinge lebt. Wie viele Mitglieder der zumeist ukraine-freundlichen, turksprachigen Minderheit der Tataren haben auch Achtems Eltern nach der russischen Besetzung der Krim vor fünf Jahren das Weite gesucht; der Onkel aber ist in Feodosia auf der Krim geblieben.

Ohne Kontakt Er könne nichts zur russischen Grenzkontrolle sagen, wehrt ein ukrainischer Grenzschutzsoldat ab. "Wir haben überhaupt keinen Kontakt zu den Russen", erklärt er. Der mit einer Kalaschnikow bewaffnete junge Mann im Tarnanzug verweist darauf, dass er nicht mit der Presse sprechen dürfe; die Demarkationslinie zur besetzen Krim ist eine Sonderzone, hier steht die Ukraine den russischen Truppen direkt gegenüber.

In Tschongar ist an diesem Freitagmorgen wenig los. Ein halbes Dutzend Armenier wartet verzweifelt auf Taxi-Kundschaft für den Weg zur 40 Kilometer entfernten ukrainischen Bahnstation Nowoaleksejewka. "Die Russen lassen wieder mal keinen in die Ukraine durch", flucht der bärtige Ashot. Der Armenier hat vor der Krim-Krise 2014 dort, wo heute der ukrainische Kontrollpunkt steht, von April bis Oktober getrocknete Fische an die Touristen verkauft. "Das Geschäft war viel besser damals als das Taxifahren heute", sagt er.

Nach der Unabhängigkeit der Ukraine von 1991 war die Halbinsel Krim - etwa so groß sie das deutsche Bundesland Hessen - ein autonomes Verwaltungsgebiet, das alle Völker der ehemaligen Sowjetunion gerne in den Ferien besuchten. Heute bringt ein Nachtzug aus Moskau im Sommer täglich sonnenhungrige Russen auf das Touristenparadies Krim - allerdings über den Umweg um das Schwarze Meer herum und über die erst im Mai 2018 von Präsident Wladimir Putin eingeweihte Krim-Brücke über die Meerenge bei Kertsch.

Wenig Reiseverkehr Derzeit überqueren knapp zwei Dutzend Fußgänger und etwa zehn Pkw pro Stunde die Grenze in Tschongar, wobei die Covid-Einreisebeschränkungen den Verkehr neben dem stillen Kriegszustand weiter drosseln. Russland verlangt für die Einreise einen negativen PCR-Test; die Ukraine will, dass die nationale Quarantäne-Applikation aufs Smartphone geladen wird. Wer nicht in die zehntägige Selbstisolation mag, kann hinter dem "KPVV Tschongar" beim Roten Kreuz kostenfrei einen Test machen. Da allerdings am ukrainischen Kontrollpunkt an diesem Morgen das Internet ausgefallen ist, werden die Einreisenden in Fünfergruppen von bewaffneten Grenzschützern an einem halb fertig gestellten Tankstellenrestaurant vorbei ins Gebäude geleitet. "Das Rote Kreuz hat Strom und Internet, wir wieder einmal nicht", erklärt der junge Grenzschützer, der eigentlich auch nicht mit der Auslandpresse sprechen darf.

Gleich neben dem KPVV hat die ukrainische Armee ein kleines Heerlager mit Wachturm errichtet. Von dort muss über den Lagunensee hinweg jede russische Truppenbewegung sichtbar sein, wenn kein Nebel die natürliche Grenze zwischen Festland und Halbinsel verwischt. Auf der Fahrt entlang der ukrainischen Demarkationslinie durch weite Steppen und abgelegene Dörfer in westlicher Richtung zum "KPVV Kalantschak", dem zweiten Übergang ins russisch besetzte Gebiet, sind keine ukrainischen Soldaten zu beobachten. Nur wenige Bauern leben direkt an der Lagune. Die Zeit scheint stehen geblieben; wer Lust auf Sowjetnostalgie hat, richtet seine TV-Antenne nach Süden auf die Krim. Wem nach ukrainischem Patriotismus steht, richtet sie nach Norden Richtung Kiew, das anderthalb Flugstunden entfernt ist.

Der Kontrollpunkt Kalantschak liegt auf der einzigen, immerhin rund sechs Kilometer breiten Landverbindung auf die Halbinsel Krim. Hier ist von der russischen Truppenpräsenz mehr zu spüren; erst kürzlich wurden neue Panzersperren und Artillerieunterstände errichtet. Immer wieder sind Gevierte auf der Steppe mit Stacheldraht umzogen. Nicht Hunderte, wohl aber Dutzende von Truppen sind auszumachen. Zivile Wegmarken sind meist mit den ukrainischen Nationalfarben Hellblau-Gelb markiert.

Neue Truppen Bewegung kam im April auf. Da zeigten amerikanische Satellitenaufnahmen plötzlich eine große russische Truppenkonzentration wenige Kilometer südlich des Kontrollpunkts "KPVV Tschongar". Insgesamt sollen die russischen Besatzungstruppen auf der Krim auf rund 40.000 Soldaten aufgestockt worden sein. Eine gleichzeitige Truppenkonzentration an der Ostgrenze der Ukraine bei der russischen Stadt Woronesch sowie an der Grenze zu der von pro-russischen Separatisten beherrschten Region Donbass heizt seither die Kriegsangst an. Von bis zu 150.000 russischen Soldaten sprach das Verteidigungsministerium in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Moskau wiederum berichtete von gewöhnlichen Manövern, entsandte zusätzliche Kriegsschiffe vom Kaspischen ins Schwarze Meer rund um die Krim und bestand darauf, seine Soldaten im eigenen Land dort konzentrieren zu dürfen, wo es wolle. Man führe nichts Böses im Schilde, sollte Kiew diese Truppen jedoch provozieren, könnte es um die Ukraine geschehen sein, drohte der Kreml.

Die Nato und Washington versicherten Kiew nach dieser Drohung noch im April ihre Solidarität, und US-Außenminister Antony Blinken unterstrich dies vergangenen Donnerstag während seines ersten Ukraine-Besuchs. "Die USA stehen felsenfest hinter der territorialen Integrität der Ukraine", versicherte Blinken dem ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenski. Allerdings ist die Ukraine nicht einmal Mitglied des Nato-Partnerschaftsprogramms für den Frieden (PFP). Neben moderaten amerikanischen Waffenlieferungen wird das Ukrainische Heer vor allem von Briten, Kanadiern und Amerikanern beraten. Bei seinem Besuch kündigte Blinken in einem Interview mit "Radio Free Europe" außerdem die Prüfung neuer US-Waffenlieferungen an.

Wenn Russland an den Grenzen zur Ukraine Truppen zusammenzieht, kommt die latente Angst vor einer Invasion des russischen Nachbarn mit seiner mindestens zehnfachen Heeresstärke wieder. In der Südukraine ist dann auch schnell auch die Idee einer russischen Landverbindung zwischen der separatistischen Ostukraine und der Halbinsel Krim in aller Munde. Die russischen Truppen müssten dafür rund 400 Kilometer Steppenland zwischen den Hafenstädten Mariupol und Cherson erobern - dies würde auch das dringendste Problems der besetzen Krim, die Versorgung mit Süßwasser, lösen. Denn etwas östlich von Cherson beginnt der ab 1962 noch zu Sowjetzeiten erbaute "Nord-Krim-Kanal", der Flusswasser des Dnipro in den Norden der Krim und von dort bis zur Hafenstadt Kertsch leitet. 2017 stellte die Ukraine ein Damm aus Stahlbeton fertig, der die Süßwasserzufuhr auf die Halbinsel Krim aus dem ukrainischen Hinterland unterbindet. Satellitenaufnahmen zeigen neben der russischen Truppenkonzentration heute vor allem eines: dass die Krim wegen Wassermangels immer mehr vertrocknet.

Davon profitiert wiederum die Landwirtschaft rund um Cherson, nördlich vom Damm. Im Südwesten der Oblast wird inzwischen gar Reis angebaut, in den Geschäften im Bauerndorf Nowa Majatschka werden die ersten Gurken und Tomaten aus hiesiger Produktion verkauft. "Wir sind total vom Nord-Krim-Kanal abhängig, denn neun von zehn Einwohnern arbeiten in der Landwirtschaft", heißt es an der Käsetheke der ukrainisch-sprachigen Detailhändlerkette "Mein Lieblingsladen". Schule und Kulturhaus mit sowjetischen Kosmonauten-Freskos sind in Betrieb als gäbe es keine Corona-Pandemie, die Dorfkneipe richtet gerade die Sommerterrasse her. Einzig im Geschäft "Zweite Linie" wird eine Gesichtsmaske verlangt.

Von der Anspannung direkt an der Demarkationslinie ist im rund 70 Kilometer nördlich gelegenen Bauerndorf Nowa Majatschka nichts zu spüren. "Ach, hier ist es wieder, das Geschwätz unserer Eltern", sagt eine junge Kundin. "Die Russen drohen immer nur, und kommen doch nie rüber", meint sie.

Wie sehr die Ukraine im Falle eines Angriffs zehntausender russischer Krim-Besatzertruppen auf sich selbst gestellt wäre, zeigt sich jedoch rund um das Dorf Tschaplinka. In der Steppenlandschaft haben sich ein paar Dutzend Soldaten, zwei Radpanzer und ein Militärkrankenwagen zu einem Mini-Manöver versammelt: Geübt wird der Abtransport von Verletzten. Ein paar Hundert Meter weiter hat das ukrainische Heer eines seiner hochmodernen Feldlager aufgebaut. Präsident Selenski hat es mit einem Helikopter-Blitzbesuch beehrt. Doch der junge Kommandant zeigt sich fünf Stunden danach wenig beeindruckt. "Der Präsident war nur kurz hier, auch mir hat er die Hand geschüttelt, dann war er schon wieder weg." Sein Camp ist mit einem hohen Zaun umfriedet, Stacheldraht sichert Strohballen, die den Blick auf Waffen und Mannschaft verhindern. "Ich fühle keine größere Anspannung als noch im März", berichtet der Offizier und fügt nicht ohne Stolz an: "Wir sind immer für eine Invasion bereit und tun eben, was zu tun ist, wenn die Russen angreifen". Die meisten seine Männer seien erfahrende Berufssoldaten, die bereits im Donbass gedient hätten. "Im Vergleich zum Kampf gegen die pro-russischen Separatisten ist dies hier ein Ferienlager", sagt der Offizier zum Abschied.

Die ukrainische Armee von 2021 ist zwar nicht mit jener von 2014 zu vergleichen, welche die Krim praktisch kampflos räumte und im Donbass wenig gegen die vom Kreml entsandten "grünen Männchen" auszurichten wusste. Dennoch stehen die Kräfteverhältnisse bis heute in großer Schieflage zugunsten des Kreml. "Wenn die Russen hier herüberkommen, nehme ich mein Gewehr aus dem Schrank und gehe zu den Partisanen", sagt der Wachmann eines Windenergieparks direkt an der Lagune des Sywasch gegenüber der nördlichsten Krim-Stadt Armjansk. "Putin wird seine arrogante Art gegenüber der Ukraine und seinen Traum von einer neuen Sowjetunion teuer bezahlen", droht der Familienvater.

Hoher Blutzoll Experten schätzen, dass allein die Eroberung einer russisch beherrschten Landverbindung vom Donbass zur Krim Zehntausende Russen das Leben kosten würde. Das wären weit mehr als die seit Sommer 2014 im Donbass getöteten 13.000 Regierungssoldaten, separatistischen Kämpfer, regulären russische Truppen (die offiziell nicht in der pro-russischen Ostukraine kämpfen) und unschuldigen Zivilisten. In Kiewer Regierungskreisen hofft man, dass dieser hohe Blutzoll Putin abschreckt.

In- und ausländische Experten sind sich da nicht so sicher. Westliche Diplomaten in der ukrainischen Hauptstadt scheinen sich im informellen Gespräch darüber einig zu sein, dass der gesperrte Nord-Krim-Kanal in seiner strategischen Bedeutung für Russland nicht zu unterschätzen ist. Der Wassermangel auf der Krim stelle für Putin ein Problem dar, das ihn im Extremfall zu einer militärischen Intervention Richtung Cherson und zum ukrainischen Fluss Dnipro verleiten könnte, heißt es. Valerij Brysenskij, Vorsitzender des Lokalparlaments von 15 Kanalgemeinden, will davon nichts wissen: "Ach was, alleine wegen des Wassers werden uns die Russen nicht angreifen", meint er. Doch der bedächtige Mittvierziger fügt hinzu: "Angst haben wir trotzdem."

Der Autor ist freier Osteuropa-Korrespondent.