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Parlamentarisches Profil : Die Insulanerin: Kerstin Kassner

10.05.2021
2023-08-30T12:39:37.7200Z
3 Min

Als sie von den leeren Straßen und Stränden auf ihrer Heimatinsel Rügen erzählt, wird Kerstin Kassners Stimme leiser. "Die Lage ist recht gespenstisch", sagt die Bundestagsabgeordnete am Telefon. "Die Rüganerinnen und Rüganer sind zwar manchmal von den Gästen genervt, aber wirtschaftlich hängt von ihnen viel ab." Genauer: Über 30 Prozent des Bruttoinselprodukts speisten sich aus dem Tourismus - Einnahmequellen, die nun seit Monaten fehlen, seit mit den Einschränkungsmaßnahmen versucht wird, der Ausbreitung des Coronavirus Herr zu werden.

Kassner, 63, vertritt als Abgeordnete der Linken den Wahlkreis. Und sie geht davon aus, dass mit dem Impffortschritt ab Juni wieder Gäste auf die Insel kommen können. "Das ist nicht zu langsam", sagt sie. "Gesundheit geht vor, wir brauchen Augenmaß." Tourismus kennt sie, von der Pike auf: Nach dem Abi erlernte sie den Beruf der Kellnerin, leitete dann ein Restaurant und absolvierte zeitgleich ein Fernstudium in Leipzig zur Diplom-Ökonomin des Hotel- und Gaststättenwesens; im Bundestag ist sie Obfrau ihrer Fraktion im Ausschuss für Tourismus und im Petitionsausschuss. Dabei steht sie nicht hinter jeder Regelung im Pandemiemanagement: Die bundesweiten Ausgangssperren hält sie für "total überzogen, ich bin dafür, nur das zu machen, das notwendig ist".

Mit 14 Jahren trat die Insulanerin der Freien Deutschen Jugend (FDJ) bei, mit 18 der SED. "Meine Eltern und Großeltern waren politisch sehr interessiert", sagt sie. "Mein Opa erzählte mir oft, wie schlimm für ihn der Zweite Weltkrieg gewesen war." In vielen Köpfen sei damals der Gedanke verankert gewesen, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe. "Mein Vater, ein Offizier, war der vollsten Überzeugung, dass die DDR-Streitkräfte nie eine Angriffsarmee sein würden." Und was ist mit der Zerschlagung des Prager Frühlings 1968? "Daran beteiligten sich keine Truppen der DDR." Aber die SED hatte doch das Eindringen sowjetischer Soldaten begrüßt? "Da hat man sich sehr zurückgehalten. Das glaube ich nicht." Damals wurde an der Grenze zur Tschechoslowakei allerdings eine Schützendivision stationiert, und die SED betrieb Radio Vltava von Dresden aus, welches die Nachbarn jenseits der Grenze auf Mittelwelle mit Propaganda beschallte.

Für Kassner war 1989 mit dem Fall der Mauer vieles neu. Für die PDS zog sie 1990 in die letzte gewählte Volkskammer der DDR ein. "Das war eine völlig andere Welt für mich" erinnert sie sich. Damals war Kassner 32. "Wenn ich geahnt hätte, welch ein Vollzeitjob das ist, hätte ich das gar nicht erst gemacht, ich wollte doch ursprünglich meinen Beruf in der Hotelleitung weitermachen."

Doch in dieser Zeit der gewaltigen Umbrüche brauchte es für die Leute Ansprechpartner für die vielen Fragen. Kassner wurde Berufspolitikerin, saß zwischen 1990 und 2001 im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern. Dann wurde sie von den Insulanern direkt zur Landrätin gewählt, im Jahr 2008 mit gar 68,3 Prozent im Amt bestätigt. Sie galt als Kümmerin. "Meine Tür war immer auf, ich war regelmäßig vor Ort und stets ansprechbar", erklärt sie ihr Erfolgsrezept. "Es waren meine glücklichsten Tage als Politikerin."

Und im Bundestag, in den sie 2013 einzog? "Dort kann ich nicht immer vorweisen, was ich gemacht habe." Die Arbeit sei abstrakter, "ein Stück weit entfernter". Doch ein bisschen schließt sich für Kassner auch ein Kreis. Damals, in der Volkskammer, seien viele Beschlüsse gefasst worden, die sich heute negativ auswirken würden, sagt sie. "Wir haben schon damals angemerkt, dass es bei den Frauenrechten, bei der Rente und den Lohnunterschieden zu Problemen kommen wird." Motiv genug, um in Berlin dafür zu streiten. Und um diesen Herbst noch einmal anzutreten - jetzt, wo Angela Merkel nicht mehr antritt und sie die Chance hat, den Wahlkreis direkt zu gewinnen - gegen junge Wettbewerber von CDU und SPD. "Ich setze aufs Ganze", sagt sie, denn über die Landesliste geht sie nicht. Ein Gong ertönt im Reichstag. Die nächste namentliche Abstimmung steht an.