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HEIMAT : »Annerschtwu is annerscht«

Von der Wiederkehr eines umstrittenen Begriffs in der Politik und dem Kampf um seine Deutung

04.01.2021
2023-11-13T09:51:14.3600Z
5 Min

Warscht du ämol uf de Kalmit, oder uf de Dahner Höh..." Bereits bei der ersten Akkorden fällt das text- und dialektsichere Publikum auf dem Dürkheimer Wurstmarkt oder einem anderen der vielen Weinfeste entlang der Deutschen Weinstraße mit ein in das "Palzlied". Und spätestens bei der zweiten Wiederholung des Refrains singen selbst ortsfremde Besucher mit: "Awwer annerschtwu is annerscht un halt net wie in de Palz." Das "Palzlied" der 1995 gegründeten Musikgruppe "Die anonyme Giddarischde" ist innerhalb nur weniger Jahre zu einer wahren Hymne in der südwestlichen Region Deutschlands avanciert. Besungen werden die Schönheit des Pfälzer Waldes, lange Sommertage an Baggerseen, feucht-fröhliche Weinfeste, die Menschen und ihr Dialekt - und die unvermeidliche Pfälzer Leberwurst.

Ein gutes Jahrhundert vor den "Anonyme Giddarischde" sangen die Pfälzer eine ganz ähnliche und doch wieder andersartige Hymne: Das "Pfälzerlied", das 1869 der Schriftsteller Eduard Jost dichtete. Auch damals wurde die Schönheit der Landschaft "am deutschen Strom, am grünen Rheine" besungen. Weinfeste und Leberwurst sucht man vergeblich im Text, dafür finden sich Burgen, Kirchen und der Speyrer Kaiserdom als Ausdruck abendländischer Geschichte. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert entstanden in Deutschland viele solcher Regionalhymnen, die Lokalpatriotismus und Bekenntnis zum "deutschen Vaterland" vereinten. Manche von ihnen sind auf Volksfesten oder offiziellen Veranstaltungen noch heute zu hören: "Wir sind die Niedersachsen, sturmfest und erdverwachsen, Heil Herzog Widukinds Stamm!" und "Schleswig-Holstein, meerumschlungen, deutscher Sitte hohe Wacht!", ertönt es im Norden, "Ich grüß' dich, du Heimat, du herrliches Land. Herz Deutschlands, mein blühendes Hessenland", wird in Kassel und Frankfurt am Main gesungen, südlich des Mains erschallt "Gott mit dir, du Land der Bayern, deutsche Erde, Vaterland!". In Gegensatz zum Schleswig-Holstein- und zum Niedersachsen-Lied gelten das Hessenlied und die Bayernhymne sogar als offizielle Hymnen der beiden Bundesländer und fallen unter den Schutz von Paragraf 90 des Strafgesetzbuch (Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole).

Ganz gleich ob "Gott mir dir, du Land der Bayern" oder eben "annerschtwu is annerscht", egal ob offiziell oder inoffiziell, in all diesen Regionalhymnen dominiert direkt oder indirekt ein Begriff, der seit etlichen Jahren durch die politische Debatten geistert, in den Feuilletons hoch und runter dekliniert wird und trotzdem nur schwer zu fassen, geschweige denn zweifelsfrei zu definieren ist: Heimat.

Das Wiedererstarken rechtsextremer und rechtspopulistischer Gruppierungen und Parteien und ihr gebetsmühlenartiges Beschwören von Begriffen wie Patriotismus, Nation, Abendland, Volk und eben auch Heimat hat dazu geführt, dass im gesamten politischen Spektrum wieder alle über den Heimat-Begriff nachdenken und zu ganz unterschiedlichen Antworten kommen. Und sei es nur unter dem Diktum, dass man den Rechten die Heimat nicht überlassen dürfe, wie man das etwa bei den Grünen ausdrückt.

Schon 2012 etwa forderte der bayerische Grünen-Politiker Sepp Dürr in einem Streitgespräch mit Umweltminister Marcel Huber (CSU) in der "Zeit" eine Debatte "ohne Scheuklappen": Ja, der Begriff sei von den Nationalsozialisten missbraucht worden. Ja, nach dem Krieg habe es die "schnulzigen Heimatfilme und Heimatromane" gegeben. Aber diese "unerträgliche Art der Heimatpflege" sage eben nichts aus "über das Bedürfnis vieler Menschen, sich regional identifizieren zu wollen". Allerdings, so befand Dürr, brauche es jenseits des bayerischen "mia san mia" einen offenen Heimatbegriff, der darauf verzichte, Minderheiten zu definieren und auszugrenzen. Prompt entgegnete CSU-Mann Huber, Heimat sei "ein Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit, sich unter Menschen aufzuhalten, die gleiche oder ähnliche Maßstäbe haben". Es gehe um "eine Landschaft, die man schön findet, um Traditionen, um Religion. Wenn das alles zusammenpasst, ist das Heimat."

Dialekt Im grün-schwarz regierten Baden-Württemberg demonstriert Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), dass er keine Probleme damit hat, solch unterschiedlichen Heimatgefühle unter einen Hut zu bringen. "Heimat ist die Grundlage für Weltoffenheit", ist er sich sicher berief 2018 gar eine Dialekttagung ins Stuttgarter Schloss ein. Ihm falle auf, wie viele Migranten Schwäbisch sprechen, schwärmte er im Interview mit den "Stuttgarter Nachrichten". Dialekt sei "die konsequenteste Form der Integration bei Kindern" und eben nicht "die Sprache des religiösen oder politischen Pathos". Deshalb laufe der Dialektsprecher auch nicht so leicht Gefahr, Nationalist zu werden.

Nach der Bundestagswahl von 2017 wurde die Heimat gar zur Bundesangelegenheit erklärt. So verleibte Horst Seehofer (CSU) nicht nur das Bau-Ressort dem Innenministerium ein, sondern firmierte ab sofort nach bayerischem Vorbild auch als Heimatminister. Und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) initiierte unlängst einen neuen freiwilligen Wehrdienst im Heimatschutz.

Solch politisch demonstriertes Heimatgefühl sorgt in der Öffentlichkeit meist eher für amüsierte Kommentare. Allerdings provozierte Seehofers "Heimatmuseum" auch harte Kritik im linken Spektrum. Der Begriff "Heimat", so befanden die Herausgeberinnen des Buches "Eure Heimat ist unser Albtraum", Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah, habe in Deutschland nie einen realen Ort, sondern schon immer die Sehnsucht nach einem bestimmten Ideal beschrieben: "Einer homogenen, christlichen weißen Gesellschaft, in der Männer das Sagen haben, Frauen sich vor allem ums Kinderkriegen kümmern und andere Lebensrealitäten schlicht nicht vorkommen". In den vergangenen Jahrzehnten habe "Heimat" den Rechtsextremisten als "Kampfbegriff" gedient, sei integraler Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie und ohne den Holocaust nicht denkbar.

Die Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen - und zwar unabhängig, ob mit oder ohne Migrationshintergrund - denken Heimat jedoch viel eher im Sinn von Heinrich Heine, der sich um seine Mutter und nicht das Vaterland sorgte. Dies zumindest zeigen die Ergebnisse der repräsentativen "Vermächtnis-Studie 2019", die "Die Zeit" gemeinsam mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und dem Institut für angewandte Sozialwissenschaft erhoben hat.

Familie Konfrontiert mit verschiedenen Aussagen zum Begriff Heimat, stimmten 88 Prozent der Befragten der Aussage "wo ich mich geborgen fühle" und 80 Prozent der Aussage "wo meine Familie/mein Lebenspartner lebt" zu. Im Vergleich dazu machten mit 59 Prozent deutlich weniger ihr Kreuz bei der Aussage "Deutschland, mein Land". Den Aussagen zu gemeinsamer Sprache (56 Prozent), gemeinsamer Kultur (49 Prozent) und gemeinsamer Religion (18 Prozent) stimmten noch weniger Menschen zu. Und nur 32 Prozent sehen ihre Heimat dort, "wo andere Menschen genauso denken, wie ich". Im Gegensatz dazu fühlen sich 58 Prozent an die Natur und 57 Prozent an Sinneseindrücke wie einen bestimmten Geruch erinnert.

Die Heimatgefühle der Deutschen taugen offenbar viel weniger für nationalistische oder gar völkische Töne als mitunter befürchtet und behauptet. Sie suchen ihre Heimat lieber mit anderen Menschen auf einem Pfälzer Weinfest - ober eben "annerschtwu".