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Interview : »Kein Widerspruch zum europäischen Projekt«

EU-Expertin Annegret Bendiek über die Rolle des Nationalstaats in einer immer stärker vergemeinschafteten EU

04.01.2021
2023-11-13T09:51:14.3600Z
3 Min

Frau Bendiek, für wie wahrscheinlich halten Sie folgendes Szenario: Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs wird aufgelöst, fortan wählt das Europäische Parlament die Regierung der Vereinigten Staaten von Europa, deren Bürger einen europäischen Personalausweis in der Tasche haben. Reine Utopie?

Es ist eine Vision, die in Teilen der Politik auf Zustimmung stößt und als Fernziel immer wieder benannt wird. Doch jeder Versuch, die 27 Mitgliedstaaten der EU vollständig in einer Union aufzulösen, wird auf heftigen Widerstand stoßen. Denn die Gemeinschaft beruht seit jeher auf der Idee, es anders zu machen als ein Nationalstaat. Sie ist der Versuch, 27 Einheiten mit sehr verschiedenen kulturellen Erfahrungen, Geschichten, Ideen und Institutionen in ein politisches Projekt zu integrieren, ohne die jeweiligen nationalen Eigenheiten abzuwickeln. Es ist genau die Verbindung vermeintlicher Gegensätze, die das Besondere und Typische des europäischen Projekts ausmacht.

Das sehen nationalistische Kräfte anders. Die AfD in Deutschland etwa warnt vor einem Ende des selbstbestimmten Nationalstaats durch die EU und pocht auf ein "Europa der Vaterländer".

Ja, nur steht der Nationalstaat eben nicht im Widerspruch zum europäischen Projekt, weil die vielfältigen europäischen Identitäten wichtig und konstitutiv für europäisches Handeln sind. Trotzdem muss man die Kritik ernst nehmen. Sie hängt aus meiner Sicht nicht nur mit der europäischen Integration zusammen, sondern allgemein mit einer Überforderung gegenüber den Prozessen der Globalisierung und der Angst, sich in diesen Prozessen nicht mehr verorten können. Diesen teilweise berechtigten Sorgen kann die EU nur begegnen, indem sie liefert. Der Schluss darf nicht sein, weniger Kompetenzen an Brüssel abzugeben. Im Gegenteil: Der Mehrwert der EU gegenüber dem isolierten nationalen Raum muss in Zukunft deutlicher werden.

Ein Mehr an Europa soll Nationalisten in die Schranken weisen?

Ja, denn ich glaube, die Vorbehalte gegen die EU haben weniger mit der Angst zu tun, Souveränität oder die eigene Identität zu verlieren, sondern mehr mit Misstrauen. Kann Brüssel wirklich so liefern, wie die Bundesregierung in Berlin? Das ist für viele unklar. Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie ist der nationale Reflex stark: Viele Staaten haben zuerst auf ihre nationale Infrastruktur zurückgegriffen. Das war auch notwendig, weil es eine echte europäische Gesundheitspolitik, die mit entsprechenden Kompetenzen und Finanzen ausgestattet ist, bislang nicht gibt. Ich bin überzeugt, die Glaubwürdigkeit der EU wird mit ihrer Handlungsfähigkeit wachsen.

Auch ausdrücklich proeuropäische Staaten wie Deutschland scheuen sich in vielen Politikbereichen davor, Brüssel mehr Macht zu übertragen.

Leider war der Wille der Bundesregierung, politisches Kapital in eine stärkere Vergemeinschaftung zu stecken, in den vergangenen Jahren gering. Aber wenn wir das europäische Projekt schützen wollen, gibt es keinen anderen Weg, als es auszubauen und weiter dafür zu argumentieren. Die Agenda der Anti-Europäer und deren Werben für ein Europa der Nationen steht für eine rückwärtsgewandte Politik. Sie wird uns keinen Meter voranbringen und globale Probleme wie Migration, Klima und Gesundheitskrisen wie die Corona-Pandemie nicht lösen.

Resultiert das Misstrauen gegenüber der EU nicht auch aus dem Eindruck, dass die nationalen Regierungen in Brüssel Deals aushandeln, ohne die Bürger und deren Vertreter, die nationalen Parlamente, angemessen einzubeziehen?

Der Vorwurf des Demokratiedefizits ist absolut berechtigt. Die europäische Politik ist viel zu exekutivlastig, und es fehlt der Mut, unangenehme und zeitintensive Debatten auszutragen. Für mehr Akzeptanz und Legitimation muss die europäische Politik in allen Bereichen parlamentarisiert werden. Dafür braucht es mehr selbstbewusste Abgeordnete im Europaparlament und in den Mitgliedstaaten, die ihre Rolle ernst nehmen und Rechte einfordern. Auch im Bundestag, wo die Parlamentsmehrheit ja in aller Regel die Regierungspolitik unterstützt, gibt es davon bislang zu wenig.

Das Interview führte Johanna Metz

Annegret Bendiek ist stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).