Kurz vor Ende der Wahlperiode wird im Parlament die Not zur Tugend erklärt. Eigentlich sollte die nach Ansicht von Gesundheitsexperten überfällige Pflegefinanzreform in diesem Jahr nicht auf den letzten Drücker beraten werden, aber die Coronakrise brachte den Zeitplan kräftig durcheinander. Ursprünglich wollte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) schon im Sommer 2020 ein Konzept vorlegen und eine breite gesellschaftliche Debatte über die Rahmenbedingungen für die langfristige Pflegeversorgung ermöglichen, daraus wurde dann nichts.
Um das wichtige Projekt dennoch voranzubringen, entschloss sich die Koalition, die Pflegereform im Schnelldurchlauf anzugehen, angehängt an das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) (19/26822), das für sich genommen mit etlichen Einzelregelungen schon sehr üppig ausgefallen ist. Der Änderungsantrag mit dem Pflegepaket umfasste noch einmal 75 Seiten. Das GVWG mitsamt Pflegepaket ist zu einem der umfangreichsten und komplexesten Gesundheitsvorlagen (19/30550) der ganzen Legislatur aufgewachsen. Der Gesetzentwurf wurde am Freitag mit den Stimmen von Union und SPD beschlossen, gegen das einhellige Votum der Opposition.
Mit dem GVWG sollen Qualität und Transparenz in der Versorgung verbessert werden. Das Gesetz sieht Vorgaben für den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), mehr Rechte für Krankenversicherte sowie Reformen in Krankenhäusern und Hospizen vor. Die Versicherten werden an mehreren Stellen entlastet. So wird der Anspruch auf eine ärztliche Zweitmeinung auf weitere planbare Eingriffe, die der G-BA festlegt, erweitert. Zudem werden Vorsorgeleistungen in Kurorten von einer Ermessens- in eine Pflichtregelung umgewandelt. Für Patienten mit starkem Übergewicht (Adipositas) wird ein Behandlungsprogramm eingeführt. In den parlamentarischen Beratungen neu aufgenommen wurde bei schwerer Abhängigkeit ein Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln zur Tabakentwöhnung im Rahmen von evidenzbasierten Programmen.
Neuer Anspruch Die Neuregelungen in der Pflege sollen dazu beitragen, Pflegekräfte besser zu bezahlen und zugleich Pflegebedürftige und ihre Angehörigen zu entlasten. Die Koalition hebt dazu den Beitragszuschlag für Kinderlose um 0,1 Punkte auf 0,35 Prozent an. Erstmals wird sich der Bund ab 2022 jährlich mit einer Milliarde Euro an den Aufwendungen der sozialen Pflegeversicherung (SVP) beteiligen. Ferner sollen ab September 2022 Versorgungsverträge für Pflegeeinrichtungen an eine tarifliche Entlohnung gekoppelt werden.
Um Pflegebedürftige in Heimen zu entlasten, soll ihr Eigenanteil schrittweise verringert werden. Das Gesetz sieht auch einen neuen Anspruch auf Übergangspflege im Krankenhaus vor, wenn andere Betreuungsformen nicht sichergestellt sind. Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) soll sich künftig mit 640 Millionen Euro pro Jahr an den Kosten der medizinischen Behandlungspflege in vollstationären Pflegeeinrichtungen beteiligen. Die Reform beinhaltet für 2022 schließlich auch einen ergänzenden Bundeszuschuss an die GKV in Höhe von sieben Milliarden Euro. Damit soll der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz 2022 bei 1,3 Prozent stabilisiert werden.
Expertenrat In gleich zwei Anhörungen zum GVWG und zum Pflegepaket monierten Gesundheitsexperten die aus ihrer Sicht zu zaghaften und finanziell nicht nachhaltigen Reformen. Der GKV-Spitzenverband erklärte, mit den jetzt vorgesehenen Regelungen werde sich die kritische Finanzlage in der Pflege weiter zuspitzen. Die nächste Bundesregierung werde eine Reformbaustelle gewaltigen Ausmaßes erben. Nach Ansicht von Gesundheitsökonomen muss sehr viel mehr Geld in die Hand genommen werden, um Gesundheit und Pflege angesichts der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft langfristig auf einem guten Niveau abzusichern.
Die Koalition würdigte die Reform als wegweisende Verbesserung in der Versorgung. Bundesgesundheitsminister Spahn sagte, in der Pandemie habe sich das Gesundheitssystem als leistungsstark, robust und verlässlich erwiesen. Es habe sich aber auch gezeigt, wo es noch Verbesserungsbedarf gebe. Was die Pflege angehe, reiche Klatschen nicht. Die bessere Bezahlung der Pflegekräfte werde für Hunderttausende Beschäftigte einen Unterschied machen. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) pflichtete bei, Menschen in der Pflege seien unentbehrlich. Die Arbeits- und Lohnbedingungen müssten aus Respekt vor dem Beruf verbessert werden. Die Reform setze dazu ein klares Signal.
Die Opposition war weniger begeistert. Ulrich Oehme (AfD) sagte, einige Regelungen seien praxisfern und führten zu mehr Bürokratie. Es gebe zu viele Vorschriften, statt Flexibilität und Selbstständigkeit zuzulassen. Das Gesundheitssystem gehöre grundsätzlich auf den Prüfstand.
Ungelöste Probleme Nicole Westig (FDP) bezeichnete die Pflegereform als Mogelpackung. Die Tarifregelung werde nicht funktionieren und sei ein Verstoß gegen die Tarifautonomie. Um die Eigenanteile nachhaltig zu senken, müsse die medizinische Behandlungspflege komplett in die GKV überführt werden. Von der Reform gehe auch kein Signal aus für Pflegebedürftige, die nicht im Heim lebten.
Harald Weinberg (Linke) sprach von einem merkwürdigen Gesetzgebungsverfahren mit sehr umfangreichen Änderungsanträgen, das im "Schweinsgalopp" beraten worden sei. Neben einigen guten Regelungen im Gesetz bleibe vor allem die Pflegepersonalnotlage in Kliniken ungelöst. Für die Erprobung des Personalbedarfs wolle sich die Koalition bis Ende 2024 Zeit nehmen. Das sei ein Skandal, zumal es schon ein fertiges Bemessungsinstrument gebe.
Unzufrieden sind auch die Grünen. Kordula Schulz-Asche (Grüne) mahnte: "Pflege ist gesellschaftsrelevant." Der demografische Wandel erfordere eine Reform, mit der Pflegearbeit aufgewertet werde. Auch werde die Verarmungsproblematik durch hohe Eigenanteile in Heimen mit den gestaffelten Zuschüssen nicht nachhaltig gelöst.
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