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AnGELA Merkel : Im Abschiedsmodus

Vergangene Woche absolvierte die Regierungschefin womöglich letzte Auftritte im Bundestag. Dort saß die seit 1990 stets direkt gewählte Abgeordnete fast doppelt so…

28.06.2021
2023-08-30T12:39:38.7200Z
6 Min

Sie kennen mich." Der Spruch aus Angela Merkels Schlusswort im TV-Duell vom Bundestagswahlkampf 2013 war so erfolgreich, dass acht Jahre später Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann das Zitat im Endspurt vor der Landtagswahl in diesem Frühjahr plakatieren ließ, in der berechtigten Hoffnung auf eine ebenfalls dritte Amtsperiode. Und ja: Wir kennen sie. Nach mittlerweile fast 16-jähriger Kanzlerschaft sogar so lange, dass die Erstwähler bei der bevorstehenden Bundestagswahl überhaupt niemand anderen an der Spitze der Bundesregierung kennen als Angela Merkel. Nicht von ungefähr ist immer wieder einmal die Anekdote von acht- oder zwölfjährigen Mädchen zu lesen, die ganz überrascht erfahren, dass grundsätzlich auch ein Mann im Amt der Bundeskanzlerin denkbar wäre. Dabei kandidieren neben einer Grünen-Politikerin auch je ein Mann von Union und SPD für die Nachfolge Merkels im Kanzleramt; sie selbst tritt bei der Bundestagswahl nicht mehr an.

Ob und wie lange sie über die Konstituierung des nächsten Bundestages hinaus - dann geschäftsführend - im Amt bleibt, hängt von den Koalitionsverhandlungen im Herbst ab. Sicher aber ist, dass mit dem ersten Zusammentreten der neu gewählten Volksvertreter, spätestens 30 Tage nach der Parlamentswahl vom 26. September, Merkels Mitgliedschaft im Bundestag endet - und die dauerte weit länger als ihre Kanzlerschaft, nämlich fast 31 Jahre.

Direkt gewählt Genauer gesagt seit dem 20. Dezember 1990, als sich der erste gesamtdeutsche Bundestag konstituierte: Mit 48,5 Prozent Erststimmen im Wahlkreis 267 "Stralsund - Rügen - Grimmen" direkt gewählt, zog die damals 36-Jährige ins Parlament ein. Sieben Mal in Folge gewann sie noch das Direktmandat in dem mehrfach umbenannten Wahlkreis, mit Ergebnissen zwischen 37,3 Prozent im Jahr 1998 und 56,2 Prozent im Jahr 2013.

Vergangene Woche absolvierte Merkel möglicherweise letzte Auftritte unter der Kuppel des Reichstagsgebäudes, in der letzten regulären Sitzungswoche der ablaufenden Legislaturperiode: Am Mittwoch stellte sie sich noch einmal den Fragen der Abgeordneten, am Donnerstag gab sie eine Regierungserklärung - ihre insgesamt 83. - zum anschließenden EU-Gipfel ab.

Die ersten fünf Regierungserklärungen hatte sie noch als Umweltministerin in den 1990er Jahren vorgetragen, und überhaupt: Wahrgenommen wurde die Volksvertreterin Merkel im Lande zumeist als Politikerin der Exekutive; schließlich bekleidete sie rund 24 Jahre lang ein Regierungsamt. Schon knapp einen Monat nach ihrem Einzug ins Hohe Haus wurde sie im Januar 1991 als Bundesministerin für Frauen und Jugend vereidigt - bei der Berufung dürfte der vorherigen Vize-Regierungssprecherin der letzten DDR-Administration die Erfüllung der Dreifach-Quote "jung, weiblich, ostdeutsch" geholfen haben. 1994 wechselte sie ins Umweltressort; 1998 folgte die Oppositionsbank, deren Härte zu kennen auch Langzeit-Kanzlern frommt.

Die einfache Abgeordnete machte auf der Parteischiene Karriere bis hin zum CDU-Vorsitz. Das trockene Brot der Opposition kaute Merkel auch nach der Wahl 2002, nun als CDU/CSU-Fraktionschefin und Oppositionsführerin auf einem der wichtigsten Posten im Parlament. 2005 wählte sie der Bundestag erstmals zur Kanzlerin, und die "Ära Merkel" begann.

Manches hat sich geändert in diesen 16 Jahren, auch im Bundestag. Die Regierungsbefragung, der sich Merkel am Mittwoch stellen musste, gibt es in dieser Form erst seit 2018; seitdem muss die Regierungschefin den Abgeordneten dreimal im Jahr eine Stunde lang Rede und Antwort stehen; die Fragen die Parlamentarier ziehen sich quer durch den politischen Gemüsegarten. Für die Kanzlerin war es vergangene Woche das zehnte Mal, und auch diesmal präsentierte sie sich dabei souverän und konzentriert, mit Detailkenntnis und etwas Spontanität.

Der Auftritt machte einen wesentlichen Faktor im Verhältnis zwischen der Regierungschefin und den anderen Parlamentariern augenscheinlich: Dass nämlich die Kontrolle der Regierung zu den vornehmsten Aufgaben des Bundestages zählt. Und noch etwas prägt das Beziehungsgeflecht zwischen dem höchstem deutschen Parlament und dem höchstem Regierungsamt im Lande in besonderer Weise: Wer in der Bundesrepublik die "Richtlinien der Politik" bestimmen will, ist anders als in früheren Zeiten allein vom Vertrauen der Volksvertreter abhängig. Nur "wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt", so sagt es Grundgesetz-Artikel 63, kann ins Kanzleramt einziehen - und dort nur bleiben, solange diese Mehrheit dahinter steht.

Merkels dreimalige Wiederwahl resultiert aus Entscheidungen der repräsentativen parlamentarischen Demokratie, die über eine bloße Bestätigung der Amtsinhaberin hinausgingen, auch wenn ihre Fraktion jeweils die meisten Abgeordneten zählte. 2009 stellten sie zusammen mit der aus der Opposition zurückkehrenden FDP die "Kanzlermehrheit", 2013 wieder mit den Sozialdemokraten, die nach der Wahl 2017 erneut und teils äußerst widerwillig einsprangen, nachdem die angestrebte Koalitionsbildung mit Freidemokraten und Grünen gescheitert war. Rechnet man 2005 hinzu, war in drei von vier Fällen der parlamentarische Gegner von gestern ihr Regierungspartner von morgen.

Das hat in der Form vor ihr noch kein Bundeskanzler geschafft, auch wenn etwa Konrad Adenauer sich 1961 wieder mit der zuvor oppositionellen FDP zusammenraufen musste, mit der sich auch Willy Brandt 1969 bei seinem Wechsel vom Chefdiplomaten zum Regierungschef zusammenfand oder der Oppositionsführer Helmut Kohl 1982 beim Wechsel auf die Regierungsbank, auf der die Freidemokraten damals schon saßen. Und wenngleich zumeist der Wählerwille Merkels Koalitionsbildungen erzwang, zeugt es doch von einer der höchsten parlamentarischen Tugenden, der Fähigkeit zum Kompromiss.

Und noch ein Alleinstellungsmerkmal kann die Langzeit-Kanzlerin und Abgeordnete Merkel beanspruchen: Weder vom Wahlvolk noch nach einem Koalitionswechsel abgewählt, scheidet sie als erste noch amtierende Regierungschefin aus dem Hohen Haus. Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl, sie alle saßen nach ihrer Regierungszeit noch mehr oder weniger lange im Parlament; ihr direkter Amtsvorgänger Gerhard Schröder legte sein Bundestagsmandat 2005 zwei Tage nach ihrer Kanzlerwahl nieder.

Nun ist die Abgeordnete Merkel beileibe nicht die einzige, die vor gut drei Jahrzehnten in den Bundestag gewählt wurde und das Parlament nun verlässt. Christoph Matschie (SPD) beispielsweise, der ebenfalls 1990 sein erstes Mandat errang, zeigte sich unmittelbar vor Merkels Befragung am Mittwoch in seiner letzten Rede "stolz, dass ich diesem Haus angehören durfte". Oder Christian Schmidt (CSU), zwischenzeitlich Agrarminister in Merkels Kabinett, der einen Tag später in der Debatte über Merkels Regierungserklärung seine Dankbarkeit für "31 unglaubliche Jahre" äußerte.

Andere nutzten die Gelegenheit, der Kanzlerin ihren Respekt zu zollen für 16 Jahre Europapolitik, während Alice Weidel, die AfD-Fraktionsvorsitzende, Merkels Weg als Kanzlerin von Fehlentscheidungen gesäumt sah. FDP-Fraktionschef Christian Lindner attestierte dagegen der Kanzlerin, sich "stets uneigennützig in den Dienst Deutschlands und Europas gestellt" und damit große Verdienste erworben zu haben; sein Linken-Pendant Dietmar Bartsch konzedierte Merkel, dabei "vielfach Schlimmeres verhindert" zu haben, und die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock bescheinigte der Kanzlerin, sie habe "in Krisensituationen in den letzten 16 Jahren dieses Europa zusammengehalten".

Merkel selbst ließ keinen Abschiedsschmerz erkennen, auch als ihr am Vortag Abgeordnete in der Befragung eine Bilanz ihrer Kanzlerschaft zu unterschiedlichen Themen entlocken wollten - teils mit Erfolg und sogar manchem Blick in die Zukunft. Beispiel Klimaschutz: Angesichts der objektiven Situation könne "kein Mensch sagen, dass wir genug getan haben - das ist doch vollkommen klar", räumte die Kanzlerin ein, aber es sei "viel passiert". Gleichwohl: "Die Zeit drängt wahnsinnig", gab sie den Nachfolgern mit auf den Weg.

Kein iPhone "Man glaubt's nicht", fiel ihr beim Stichwort Digitalisierung ein, "aber als ich Bundeskanzlerin wurde, gab's das iPhone noch nicht", und beim Thema "Frauenanteil im Parlament" bekannte sie, damit erst zufrieden zu sein, wenn er bei 50 zu 50 liegt. Ob sie es dann nicht am besten fände, wenn weiterhin eine Frau im Kanzleramt sitzt, wollte da eine Grünen-Abgeordnete nicht ohne Hintergedanken wissen, konnte Merkel aber nicht auf's Glatteis locken. Sie sei der Meinung, antwortete sie, "dass nach 16 Jahren Angela Merkel die Bürgerinnen und Bürger mündig genug sind, ihre Entscheidung zu treffen, wen sie als Kanzler möchten - oder als Kanzlerin".