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Historie : Zehn Pfund Stahl

Wie Politiker trotz Behinderung Geschichte schrieben

12.07.2021
2023-08-30T12:39:39.7200Z
6 Min

Es ist eines der ganz wenigen Bilddokumente, die enthüllen, was zu seinen Lebzeiten niemand sehen sollte: Franklin Delano Roosevelt, der 32. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika saß im Rollstuhl. Die Aufnahme entstand im Februar 1941 auf der Veranda seines Anwesen Top Cottage in Hyde Park und zeigt FDR, wie die Amerikaner den erfolgreichen und beliebten Präsidenten bis heute nennen, zusammen mit seinem Scottish Terrier Fala und der Tochter des Verwalters Ruthie Bie.

Im August 1921 waren beim damals 39-Jährigen Roosevelt erstmals schwere Lähmungserscheinungen an Beinen, Armen und im Rücken aufgetreten. Während sich die Muskulatur in Armen und Rücken erholte, musste der agile und sportliche Roosevelt für den Rest seines Leben mit der Lähmung seiner Beine kämpfen. Die medizinische Diagnose ist bis heute umstritten. Lange Zeit galt Kinderlähmung als die Ursache, neuere Forschungen gehen vom Guillain-Barré-Syndrom aus, einer seltenen und damals noch unbekannten Nervenkrankheit. Roosevelts politische Karriere, die 1910 mit seiner Wahl für die Demokraten in den Senat des Staates New York begonnen und zehn Jahre später bei den Präsidentschaftswahlen mit seiner Kandidatur für Vizepräsidentschaft einen ersten Höhepunkt erreicht hatte, schien vorerst beendet. Doch schon 1924 wandte er sich erneut der Politik zu.

Rollstuhl und Beinschienen Aufgenommen hat das Foto Roosevelts enge Vertraute und Cousine Margaret Suckley. Mit ihrem Foto gelang Suckley etwas, was Journalisten und Fotografen aufgrund einer Absprache mit dem Weißen Haus verwehrt blieb - den Präsidenten als gehbehinderten Menschen und nicht als den starken Führer der freien Welt zu zeigen. Wer sich über diese Absprache hinwegsetzen wollte, musste mit der Intervention des Secret Service rechnen. Viel lieber ließ sich Roosevelt während seiner zwölfjährigen Präsidentschaft zwischen 1933 und 1945 am Schreibtisch sitzend oder im Auto fahrend fotografieren oder filmen. Seinen Wagen ließ er so umbauen, dass er ihn ohne Pedale per Hand fahren konnte. Der Öffentlichkeit blieb die körperliche Einschränkung ihres Präsidenten weitgehend verborgen. Nur einmal thematisierte Roosevelt seine Behinderung öffentlich: Anfang März 1945 - sechs Wochen vor seinem Tod am 12. April - bei seiner Rede vor dem Kongress, den er über die Konferenz von Jalta informierte. Roosevelt entschuldigte sich bei den Parlamentariern, dass er im Sitzen rede, aber sie würden verstehen, dass es ihm "erheblich leichter" falle, "nicht zehn Pfund Stahl an den Beinen tragen zu müssen". Die zehn Pfund Stahl bezogen sich auf seine Beinschienen, die es im erlaubten, zumindest aufrecht zu stehen oder auch kurze Strecken zu gehen.

Warum Roosevelt seine Behinderung möglichst geheim halten wollte, ist nicht bekannt. Doch auch 1933 dürfte sich Roosevelt bereits über die Macht der Bilder bewusst gewesen sein. Ein Präsident, der nicht auf den eigenen zwei Beinen laufen kann? Dass Menschen mit einer Behinderung außergewöhnliche Dinge erreichen können, mag aus heutiger Sicht eine gefühlte Selbstverständlichkeit sein. Stephen Hawking war vom Kopf abwärts gelähmt und konnte nur mit einem Sprachcomputer kommunizieren, trotzdem gehört er zu den berühmtesten und renommiertesten Physikern. Ludwig van Beethoven mag kaum noch etwas gehört haben und komponierte dennoch seine 9. Symphonie. Bei Michael J. Fox wurde im Alter von 29 Parkinson diagnostiziert, seine Karriere als einer der beliebtesten Hollywood-Schauspieler setzte er entgegen aller Ratschläge fort. Und seit dem Spielfilm "A beautiful mind" weiß eine breite Öffentlichkeit, dass der Mathematiker John Nash trotz akuter paranoider Schizophrenie für seine Arbeiten zur Spieltheorie den Nobelpreis für Wirtschaft erhielt. Ganz zu schweigen von all den Sportlern mit Behinderungen, die Höchstleistungen erbringen. Behinderte Politiker in machtvollen Positionen hingegen sind bis heute eher die Ausnahme. Immerhin sind unter anderem mit Caesar, Napoleon, Erzherzog Karl von Österreich-Teschen, Lenin und Papst Pius IX gleich mehrere politische Prominente in den Geschichtsbüchern vertreten, die an Epilepsie litten oder bei denen es zumindest vermutet wird.

Kartenspielender Playboy Weggefährten Roosevelts zeigten sich überzeugt davon, dass die körperliche Behinderung letztlich seine wahren Stärken hervorbrachten. Sein Pressesprecher Steve Early behauptete gar, ohne die Behinderung wäre FDR nie Präsident geworden. In den früheren Jahren sei er "nur ein Playboy" gewesen, der lieber Karten spielte als seine Reden vorzubereiten. Und Sozialministerin Francis Perkins befand: "Ich glaube, die Beschwernisse, die Roosevelt quälten, brachten ein vollständiges humanitäres Mitfühlen in ihm hervor, das er sich sonst gar nicht hätte vorstellen können."

Rund 2.000 Jahre vor Roosevelt hatte bereits ein anderer politischer Führer bewiesen, dass körperliche Schwächen kein Hindernis für erfolgreiches Regieren sein müssen: Tiberius Claudius Caesar Augustus Germanicus herrschte als vierter Kaiser der julisch-claudischen Dynastie von 41 bis 54 n. Chr. über das Römische Imperium. Eine Statue in den Vatikanischen Museen zeigt Claudius in der vergöttlichten Gestalt und Pose Jupiters. Mit der Realität hat die Statue jedoch keine Ähnlichkeit - im Gegenteil. Der Imperator soll, so berichten es antike Biografen, unter einer ganzen Reihe Beeinträchtigungen gelitten haben: Er hinkte, stotterte und sein Kopf zitterte unkontrolliert, bei Aufregung lief seine Nase und er sabberte, berichten Seneca, Tacitus, Sueton und Cassius Dio. Insgesamt zeichnen sie das Bild eines schwächlichen, ja geradezu trotteligen Mannes, dessen körperliche Unzulänglichkeiten seinen charakterlichen entsprachen. Doch dieses Negativbild muss mit Vorsicht betrachtet werden. So hatte etwa Seneca durchaus Gründe für eine nachträgliche Abrechnung, hatte Claudius den Philosophen doch für acht Jahre in die Verbannung geschickt.

Die moderne Geschichtsschreibung zeichnet das deutlich differenziertere Bild eines durchaus fähigen Herrschers, der Reformen im Justizwesen anschob, eine rege Bautätigkeit entfaltete und mit der Eroberung des südlichen Britanniens die erste große territoriale Erweiterung des Imperiums seit den Tagen von Kaiser Augustus realisierte. Obendrein machte er sich einen Namen als Gelehrter und Verfasser mehrere historischer Werke. Erhalten ist keines dieser Werke, ebenso wenig wie seine Autobiografie.

Mit der fiktiven Autobiografie "Ich Claudius, Kaiser und Gott" setzte der Schriftsteller Robert von Ranke-Graves Claudius schließlich ein literarisches Denkmal. Die Gebrechen des Claudius und ihre Auswirkungen auf sein Leben nehmen in dem Roman einen breiten Raum ein: "Ich war ein kränkliches Kind, ein ,wahrer Tummelplatz für Krankheiten', wie die Ärzte sagten, und ich bin vielleicht nur am Leben geblieben, weil die Krankheiten sich untereinander nicht einigen konnten, welche von ihnen die Ehre davontragen sollte, mich zur Strecke zu bringen", lässt Ranke-Graves den stotternden "Clau-Clau-Claudius" erzählen. "Es fing damit an, dass ich vor der Zeit geboren wurde, zwei Monate zu früh; dann bekam mir die Milch meiner Amme nicht, so dass ich an einem unappetitlichen Ausschlag litt. Darauf hatte ich Malaria, und dann bekam ich die Masern, wodurch ich auf dem einen Ohr etwas schwerhörig wurde. Dann kamen Scharlach, Gelenkrheumatismus und schließlich eine Lähmung, wodurch mein linkes Bein im Wachstum behindert wurde und ich für alle Zeit zum Hinken verurteilt wurde."

Politische Karriere Die literarische Krankenakte ist fiktiv, an Diagnosen hat es in der Forschung allerdings nie gemangelt. Sie reichen von Kinderlähmung wie im Falle Roosevelts bis hin zu infantile Zerebralparese, die charakterisiert ist durch Störungen des Nervensystems und der Muskulatur. Viel wichtiger ist jedoch der Befund, dass Claudius seine Behinderungen politisch in die Karten spielen sollten. In diesem Sinne interpretierte auch Ranke-Graves die Geschichte eines verspotteten, verachteten und zugleich unterschätzten Mannes. Diese Interpretation dürfte der historischen Gestalt des Claudius sehr nahe kommen. Von einer politischen Karriere, wie sie für ein Mitglied der römischen Oberschicht standesgemäß gewesen wäre, hielt ihn die Kaiserfamilie trotz seiner wiederholten Bitten offenbar aus Imagegründen zunächst fern. Erst sein Neffe, Kaiser Caligula, erhob ihn im Jahr 37 n. Chr. zum Mitkonsul, was ihn jedoch nicht davon abhielt, Claudius vor dem Senat wegen seiner Gebrechen zu demütigen. Überhaupt schien von Claudius in den Augen Caligulas, der nicht davor zurückschreckte, potenzielle Konkurrenten selbst in der eigenen Familie gewaltsam beseitigen zu lassen, keine Gefahr für den eigenen Machtanspruch auszugehen.

So überlebte Claudius nicht nur die Gewaltherrschaft Caligulas, sondern auch den Putsch der Prätorianergarde und etlicher Senatoren im Jahre 41 n. Chr. Während Caligula, seine Frau und deren Töchter ermordet beziehungsweise hingerichtet wurden, sollen die Prätorianer den verängstigten Claudius hinter einem Vorhang versteckt im kaiserlichen Palast gefunden und zum neuen Kaiser ausgerufen haben. Die Frage, ob die Putschisten in Claudius als Mitglied der Kaiserfamilie einen legitimen Kandidaten oder eine schwache und willfährige Marionette zu sehen glaubten oder ob er selbst in die Verschwörung gegen Caligula involviert war, ist ungeklärt. Der Senat zumindest bestätigte ihn wenig später als Kaiser.