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»Selbst Fahrradkörbe werden als Abfalleimer missbraucht«

26.07.2021
2023-08-30T12:39:39.7200Z
4 Min

Wenn Eva Becker durch die Straßen der Hauptstadt läuft, dann nimmt ihr geschultes Auge Dinge wahr, die der Großstädter meist nur noch unbewusst registriert: Müll - in all seinen Erscheinungsformen, in denen er das Stadtbild Berlins prägt. "Schauen Sie mal hier", sagt sie und deutet auf eine kleine Infotafel einer Reederei am Geländer des Spreeufers zwischen Hauptbahnhof und Kanzleramt. Ein kleiner Plexiglasbehälter an der Tafel offeriert nicht wie versprochen die aktuellen Fahrpläne für Schiffsfahrten auf der Spree oder zum Wannsee. Dafür gibt es eine zerknüllte Packung "Fisherman's Friend", eine FFP2-Maske, gebrauchte Taschentücher und anderen Abfall.

"Solche Stellen findet man überall in Berlin", weiß Eva Becker zu berichten. So ziemlich alles werde als Abfalleimer missbraucht. "Zum Beispiel Fahrräder mit Einkaufskörben. Lassen Sie Ihr Rad mal eine halbe Stunde irgendwo an der Friedrichstraße stehen. Wenn Sie zurückkommen, haben sie beste Chancen, in ihrem Korb einen Kaffee-Becher vorzufinden. Ganz nach dem Motto: Fahr mal meinen Müll weg! Man fragt sich schon, was in den Köpfen der Menschen so vorgeht." Dies ist eine von vielen Fragen, auf die Eva Becker Antworten sucht während ihrer Müll-Spaziergänge durch die Hauptstadt.

Diese Antworten sucht die gebürtige Rheinländerin nun bereits seit gut zehn Jahren - und zwar mit wissenschaftlicher Akribie. Gut 10.000 Fotos umfasst ihr Archiv, das den Müll der Großstadt dokumentiert. Alle verschlagwortet nach Art und Fundort. "Berlin ist ein wahres Müll-Dorado", sagt Becker mit sarkastischem Unterton. Prenzlau, wohin sie vor zwei Jahren umgezogen ist, sei da "deutlich weniger ergiebig". Was auf den ersten Blick als ein spleeniges Hobby erscheinen mag, ist für Eva Becker Profession: Sie ist die einzige Müllarchäologin Deutschlands.

Dass Archäologen regelrecht im Müll wühlen, ist weder ungewöhnlich noch neu. Vor allem in der Siedlungsarchäologie ist Müll ein wahrer Goldschatz. Er verrät, wo und wie unsere Vorfahren vor tausenden von Jahren gelebt haben, welche Materialien sie verarbeiteten, welche Nahrung sie zu sich genommen haben, welche Werkzeuge sie benutzten. Im Gegensatz zu den klassischen Archäologen muss Becker nicht im Erdreich graben. Die gewonnen Erkenntnisse seien aber ganz ähnlich, betont die Müllarchäologin.

Auf ihrem Blog (https://muell-archaeologie.de) veröffentlicht sie Fundstücke und macht sich so ihre Gedanken über den Umgang der Gesellschaft mit ihrem Müll. Ansonsten ist Becker zurückhaltend mit der Öffentlichkeit: "Ein Foto von mir? Nein. Mein Alter? Was schätzen Sie denn?" Ihre Augen lachen schelmisch. "Das Thema ist wichtig, nicht meine Person."

Eva Beckers Sprache verrät ihren professionellen Hintergrund: Die achtlos weggeworfene Zigarettenkippe, die ausrangierte verschimmelte Matratze auf dem Gehweg oder der Kaffee-to-go-Becher in der Grünanlage sind für sie nicht einfach nur unliebsame Überreste einer Wegwerfgesellschaft, sondern es sind "Artefakte", die sie "in situ" aufspürt. So nennen es Archäologen, wenn sie von Menschenhand erschaffene Gegenstände am Ort ihrer ursprünglichen Nutzung finden. In diesem Fall, am Ort ihrer unsachgemäßen Entsorgung.

Becker studierte neben Religionswissenschaften, Archäologie sowie Ur- und Frühgeschichte. Promoviert wurde sie an der Humboldt-Universität mit ihrer Dissertation über die altmongolische Hauptstadt Karakorum. Sie war an Grabungen im In- und Ausland beteiligt und arbeitete unter anderem für verschiedene Landesämter für Denkmalpflege im Osten Deutschlands.

Seit 2011 hat sich Becker jedoch ganz der Müllarchäologie verschrieben - freiberuflich, ohne Lehrstuhl oder offiziellen Forschungsauftrag. Müllarchäologie im Sinne Beckers spielt in Deutschland wissenschaftlich keine Rolle. In den USA hingegen entwickelte der Archäologe William L. Rathje bereits in den 1970er Jahren mit dem "garbage project" erstmals wissenschaftliche Methoden. So konnte Rathje belegen, dass die Selbstauskünfte von Amerikanern nicht mit ihrem wahren Konsumverhalten übereinstimmen. Ihr Müll strafte sie Lügen.

Becker ist sich sicher, dass die Erkenntnisse der Müllarchäologie auch für Stadtplaner von Interesse wären. Überhaupt müsse das Thema interdisziplinär betrachtet werden. Beim Müll gehe es auch um Psychologie. Die Bequemlichkeit des Menschen sei der Hauptgrund dafür, dass der so achtlos weggeworfen werde. Allerdings nicht ganz achtlos. Es gibt auffällige Gemeinsamkeiten: Im Gebüsch oder hinter Bauzäunen finde sich auffällig oft und viel Abfall. "Die Menschen lassen ihren Müll hinter einer Barriere verschwinden." Aus den Augen aus dem Sinn. Ginge es nach Becker, dann würde der angemessene Umgang mit dem Müll verstärkt in der Schule thematisiert werden. Sie selbst hat dies an mehreren Berliner Schulen in Projekten mit Schülern getan. Becker bietet auch Fortbildungen für Erwachsene an. "Aber dafür interessiert sich so gut wie niemand", konstatiert sie.

Eva Becker hat aber auch andere archäologische Interessen. Im vergangenen Jahr publizierte sie einen schmalen Band über das Mahlsteinmuseum im brandenburgischen Neu-Kleinow. Damit war sie aber wieder ganz nah bei ihrer Passion. Das Wort Müll leitet sich nämlich vom althochdeutschen "mullen" (zerstoßen, zerreiben) ab. So wie der Müller.