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EDITORIAL : Landluft macht frei

09.08.2021
2023-08-30T12:39:40.7200Z
2 Min

Stadtluft macht frei - so hieß es seit dem Mittelalter: Leibeigene, die ihrem Grundherren entflohen waren, konnten nach "Jahr und Tag" zum freien Stadtbewohner werden. Bis heute gehalten haben sich gegensätzliche Zuschreibungen von Stadt und Land. Hier Verdichtung, Beschleunigung, Mobilität, dort Beharrungskräfte, Tradition, der enge Horizont des Dorfes.

Beim näheren Hinschauen freilich wird man manchen provinziellen Winkel in deutschen Großstädten und andererseits eine überraschende Vielfalt in ländlichen Räumen vorfinden, die untereinander womöglich mehr Verschiedenheiten aufweisen, als es der Vergleich zur nächstgelegenen Metropole hergibt. Wie urban, wie vernetzt, wie stark in die globalisierte Welt eingebunden ein Landstrich ist, lässt sich nicht zwingend von Faktoren wie Siedlungsdichte und Abgelegenheit ableiten: Weltmarktführer finden sich in Metropolregionen ebenso wie im Ortenaukreis oder im Landkreis Vechta.

Aufgabe der Politik bei der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist es nicht, Stadt und Land auf Biegen und Brechen gleich zu machen. Im Kern geht es darum, dafür zu sorgen, dass eine zur Vielfalt strebende Gesellschaft weiterhin einen gemeinsamen Nenner findet. Das wechselseitige Unverständnis und die Sprachlosigkeit, mit der sich Bewohner von Peripherie und Zentrum zuweilen gegenüberstehen, ist im US-Wahlkampf des Jahres 2016 sichtbar geworden und zuletzt beim landesweiten Protest der Gelbwesten in Frankreich. Übrig bleibt in solchen politischen Auseinandersetzungen oft nur noch das Klischee: Hier der bramarbasierende, sich an der Spitze des Fortschritts wähnende Metropolenbewohner, dort der rückständige Hinterwäldler. "A basket of deplorables", ein "Korb voller Bedauernswerter" - so hat Hillary Clinton die vor allem ländliche Anhängerschaft Donald Trumps einmal bezeichnet und ihrem Kontrahenten damit eine Steilvorlage geliefert.

Man mag einwenden, dass es hierzulande an die Grenzen des politisch Möglichen stößt, gleichwertige Lebensverhältnisse bis zur letzten Konsequenz ausbuchstabiert zu garantieren. Gleichwohl ist es ein Gebot der politischen Klugheit, an diesem Anspruch festzuhalten. Wenn Regionen den Anschluss verlieren - demografisch, technisch, bei Bildung und Gesundheitsversorgung, bei den Aufstiegschancen - dann birgt das Spaltpotenzial. Das gilt allerdings für ländliche Räume genauso wie für manchen innerstädtischen Bezirk.