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Rechtsstreit zwischen Polen und EU : Bündnispartner auf Konfrontationskurs

Die EU verschärft ihren Kurs im Rechtsstreit mit Warschau und verlangt eine Million Euro Zwangsgeld - pro Tag. Morawiecki kündigt Veto gegen EU-Vorhaben an.

01.11.2021
2023-11-21T15:47:30.3600Z
3 Min

Für Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki geht es um nicht weniger als um einen - nach Lesart der polnischen Regierung - anti-kolonialen Befreiungskrieg der Mittelosteuropäer gegen die Brüsseler Bürokraten-Besatzer. Vor zwei Wochen reiste er nach Straßburg, um im EU-Parlament ein Verfassungsgerichtsurteil, wonach einige EU-Gesetze gegen die polnische Verfassung verstoßen, zu verteidigen. Dort malte Morawiecki das Schreckgespenst eines Brüsseler "Superstaats" an die Wand, dessen Mitgliedsländer nur noch weisungsgebundene "Provinzen" seien. Die EU-Kommission bezichtigte er der "Erpressung", weil sie wegen des Urteils Gelder des EU-Corona-Wiederaufbaufonds zurückhalte. Polen sei ein stolzes Land, das sich niemanden unterordnen werde, unterstrich der Regierungschef. "Die Kompetenzen der EU haben ihre Grenzen", endete er. Vergangene Woche drohte Morawiecki in einem Interview mit der "Financial Times" darüber hinaus mit einem Veto Warschaus gegen das EU-Klimapaket und andere EU-Vorhaben, sollte Brüssel nicht einlenken.

Grund des Zerwürfnisses zwischen Warschau und Brüssel ist ein seit Frühsommer mehrmals vertagtes Verfassungsgerichtsurteil über das Primat des polnischen vor EU-Recht. Morawiecki selbst hatte die Verfassungsfrage im März eingereicht. Das Verfassungsgericht entschied am 7. Oktober - allerdings nicht einstimmig, sondern im Verhältnis zehn zu zwei Richter -, dass polnisches Recht über EU-Recht stehe. Das ist jedoch wenig überraschend: Das Verfassungsgericht wird inzwischen klar von Richtern dominiert, die von der Regierungspartei PiS ernannt worden sind.

EuGH-Urteile als Zankapfel

Laut dem Urteil verstoßen konkret die Artikel gegen die polnische Verfassung, die den Transfer nationaler Kompetenzen an die EU, die Geltung von EU-Gesetzen und die Kompetenz des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) als oberstem Justizorgan regeln; dessen Rechtsprechung haben sich alle EU-Mitglieder bei der Unterzeichnung des EU-Beitrittsvertrags unterworfen. Im Klartext bedeutet das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts, dass sich Polen künftig nicht mehr an EuGH-Urteile halten muss.

Die wachsenden Auseinandersetzungen mit der EU hatten schon wenige Wochen nach dem Wahlsieg von Jaroslaw Kaczynskis rechtskonservativer Volkspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) im Herbst 2015 begonnen. Seither treibt die PiS ihre sogenannte Justizreform voran, mit der sie versucht, die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte auf allen Ebenen durch eine Parteijustiz zu ersetzen. Mehrere Urteile des EuGH richten sich inzwischen gegen diese Reform, zuletzt entschied das EU-Gericht am vergangenen Donnerstag, dass Polen täglich eine Million Euro Strafe zahlen soll, sollte es sich weiterhin weigern, höchstrichterliche Entscheidungen des EuGH umzusetzen. Doch das hat Polens Justizminister Zbigniew Ziobro bereits strikt abgelehnt. "Polen kann und sollte nicht auch nur einen einzigen Zloty zahlen", betonte er. Bereits im September war Polen zu täglichen Zahlungen von einer halben Million Euro verurteilt worden, weil es entgegen einer einstweiligen Anordnung des EuGH den Braunkohleabbau in Turow an der Grenze zu Tschechien nicht stoppte.

Polen auf dem Weg zum EU-Austritt?

Brüsseler Politiker sowie Polens linke und liberale Opposition sehen das Land nun auf dem Weg in den "Polexit" - dem Austritt aus der EU. Die Opposition protestiert seit drei Wochen gegen diesen angeblichen Plan von PiS. Vor allem Oppositionsführer Donald Tusk, der ehemalige EU-Ratspräsident, ruft zum Widerstand auf. Nach dessen Rückkehr aus Brüssel in die polnische Landespolitik hat Kaczynski seinen politischen Erzfeind zurückerhalten. Tusk gilt als Turbo-Europäer, gegen ihn kann sich Kaczynski am besten als EU-Skeptiker profilieren.

Doch ob es wirklich zu einem "Polexit" kommt, ist fraglich. Schon heute hält die EU eine Tranche vom 36 Milliarden Euro an Beihilfen aus dem EU-Corona-Wiederaufbaufonds zurück. Mit den Geldern will PiS ein großes Infrastrukturprogramm finanzieren, das bereits landesweit auf Plakaten beworben wird. Nur so kann sich die Partei weiterhin Wahlgeschenke in Form von Sozialhilfe leisten, um an der Macht bleiben zu können.

PiS schlägt aus Streit politisch Kapital

Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts betrachtet Kaczynski, inzwischen Vize-Regierungschef, wohl vor allem als ein großes Wahlkampfgeschenk. In zwei Jahren wird in Polen ein neues Parlament gewählt, vielleicht kommt es auch zu vorgezogenen Neuwahlen. PiS will dann ein drittes Mal als stärkste Kraft bestätigt werden. Kaczynski hofft, den innenpolitischen Dauerstreit bis dahin aufrecht erhalten zu können, denn die Polarisierung der Gesellschaft hat ihn 2015 an die Macht gebracht und ihm 2019 die Wiederwahl beschert.

Doch das ist eine durchaus riskante Strategie. Die EU-Kommission hat bereits klargestellt, dass Warschau das verhängte Zwangsgeld, das in den EU-Haushalt fließen soll, definitiv begleichen muss. Wenn ein Land ein Zwangsgeld auch nach mehrfacher Aufforderung nicht zahle, werde die Summe aus EU-Zahlungen an das Land kompensiert, betonte ein Sprecher der Behörde.

Der Autor ist freier Korrespondent in Warschau.