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Unzufriedenheit mit Corona-Krisenmanagement : "Es werden zu wenig positive Ziele formuliert"

Petra Bahr ist Mitglied des Deutschen Ethikrates. Sie stellt einen enormen Vertrauensverlust nicht nur an den gesellschaftlichen Rändern fest.

22.11.2021
2024-03-14T11:23:44.3600Z
6 Min

Frau Bahr, in Krisensituationen zeigt sich das wahre Gesicht von Einzelnen oder Gruppen, heißt es oft. Was sehen Sie, wenn Sie auf unser Land blicken?

Petra Bahr: Institutionen, die sich mit längerfristigen Perspektiven befassen, Szenarien entwickeln und vorausschauende Handlungsempfehlungen entwickeln, werden zu wenig ernst genommen. Das ist vielleicht auch der Logik einer Politik geschuldet, die im Präsentismus direkter Meinungsmessung gefangen ist. "Omission risk" nennt man das in der Risikoethik. Es scheint weniger riskant, nichts zu tun, als zu viel oder das Falsche zu tun, weil das politisch sofort abgestraft wird. Das ist leider ein falsches Kalkül. Was wir augenblicklich sehen, ist eine Form systemischen Unterlassens.

Foto: picture alliance / SZ Photo

Prof. Dr. Petra Bahr ist Mitglied des Deutschen Ethikrates und seit 2017 Regionalbischöfin für den Sprengel Hannover in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers.

Ist dieser Handlungs-Stau der einzige Grund für die Unzufriedenheit vieler mit dem Corona-Krisenmanagement?

Petra Bahr: Jenseits der Frage, welche detaillierten Maßnahmen jetzt greifen oder nicht, sehe ich einen erheblichen Vertrauensverlust. Bei einer schrillen, teilweise auch verfassungsfeindlichen Minderheit müssen demokratische Gesellschaften damit umgehen, robust und doch gelassen. Wenn das Vertrauen der Mehrheit in staatliche Institutionen schmilzt, ist das ein Problem. Vertrauen ist keine schnell nachwachsende Ressource. Dazu kommt eine politische Kommunikation, die keine positiven Ziele formuliert. Was bleibt, sind apokalyptische Bilder.

Derzeit verläuft die Debatte ums Impfen teilweise sehr hitzig. Bröckelt der gesellschaftliche Zusammenhalt nach fast zwei Jahren Pandemie?

Petra Bahr: Es bröckelt an den Rändern nicht erst seit der Pandemie. Entscheidungen von Mehrheiten zu akzeptieren, fällt vielen zunehmend schwer. Dazu kommen nun gezielte Falschkampagnen, sozialer Druck, Sehnsucht nach religionsartiger Sicherheit in Gegengemeinschaften. Schuldzuweisungen machen es auf den ersten Blick einfach. Tatsächlich existieren aber oft sehr komplizierte Betroffenheitslagen. Die Gruppe derjenigen, die nicht geimpft sind, ist keine Gruppe. Es gibt Frust, Ignoranz, Hilflosigkeit, auch sozialen Druck des Umfeldes, besonders gegenüber Frauen und jungen Leuten, die sich impfen lassen wollen. Es hätte geholfen, die Zivilgesellschaft früh in die Kampagne einzubinden. Aus dem "Angebot" hätte das "Aufsuchen" werden müssen, lokal, mobil, mit direkter Ansprache. Jetzt geht das plötzlich, viel zu spät.

Der Ausgleich von Interessen muss auf vielen Ebenen erreicht werden, medizinisch, sozial, wirtschaftlich. Fehlt ein gemeinsames Gremium dafür?

Petra Bahr: Dieser Ausgleich wird ja versucht. Ich glaube aber nicht, dass ein Supergremium dafür geeignet ist. Das müsste ja ein runder Tisch von der Größe eines Stadions sein. Für die Aufarbeitung dieser Katastrophe in Zeitlupe könnte das aber wichtig sein. Beim Ausgleich und Abgleich unterschiedlicher Perspektiven braucht es Erfahrungen der Kooperation. Die kommunale Ebene ist in der Pandemie viel zu wenig beachtet. Eher schon sollte man überlegen, ob es bessere Formen des "Forsight" geben kann, in der mögliche Szenarien auch andere als medizinische Folgen ermitteln und vorausschauenderes Handeln ermöglichen.


„Die gesellschaftliche Achtung gegenüber Menschen in sozialen Berufen steht in keinem Verhältnis zu dem, was sie leisten.“
Theologin Petra Bahr

Kinder, auch betreute Menschen in Gemeinschaftseinrichtungen haben unter der Pandemie bisher besonders gelitten. Wird diese Erkenntnis aktuell genug berücksichtigt?

Petra Bahr: Nein. Ein Beispiel aus meinem Bereich sind die Kitas. Sie kämpfen seit Jahren schon mit Fachkräftemangel. Die Erwartungen an diese frühen Bildungsorte steigen stetig. Vielen Kindern geht es nach fast zwei Jahren Pandemie nicht gut. Das pädagogische Personal ist nicht nur nach wie vor Gesundheitsrisiken ausgesetzt, an den Türen muss es die gesellschaftlichen Konflikte und den enormen Druck, der auf den Eltern lastet, abfangen. Die Polarisierung und die Grundgereiztheit werden ja nicht nur in Medien ausgetragen. Es gibt viele, die sagen: "Ich kann das bald nicht mehr."

Wieso genießt der Manager eines großen Unternehmens eigentlich mehr gesellschaftliche Anerkennung als jemand, der sich jeden Tag um andere Menschen kümmert?

Petra Bahr: Wir bräuchten eigentlich eine Leistungsdebatte. Die gesellschaftliche Achtung gegenüber Menschen in sozialen Berufen steht in keinem Verhältnis zu dem, was sie leisten. Die oft hohe innere Motivation derer, die mit Schwerkranken, mit Dementen, mit Menschen in prekären Lebenssituationen arbeiten, verdeckt nur noch notdürftig diese Schieflage. Anerkennung gibt es weder über Aufmerksamkeit, noch über Geld und schonendere Arbeitsbedingungen. Ich halte das für fahrlässig, weil junge Leute diese Berufe mehr und mehr meiden werden. Die meisten Menschen verdrängen den Gedanken daran, dass sie irgendwann gute Pflege und Begleitung brauchen werden. Wenn von den "Leistungsträgern" die Rede ist, sind in der Regel andere gemeint.

Die Pandemie hat vor allem gezeigt: Das Virus trifft eben nicht alle gleich, wie es anfangs so oft hieß. Ärmere Menschen sind viel stärker betroffen.

Petra Bahr: Gesundheit als öffentliches Gut war lange Zeit überhaupt kein Thema mehr. Dabei steht ihre Förderung am Beginn der Demokratiegeschichte. Gesundheit ist - darauf stößt uns nun ein Virus - , immer mehr als nur Privatsache. Die individuelle Lebenssituation hat Folgen für die Lebenserwartung der Einzelnen, die Lebensqualität der nächsten Generation, aber auch erhebliche Folgen für Bildung, Wirtschaft, Infrastruktur. Während die Aufregung über marode Straßen groß ist, ist die marode Infrastruktur im öffentlichen Gesundheitswesen kein Aufreger. Öffentliche Gesundheit hat vor allem die Prävention und Aufklärung im Blick. Auch das ist undankbar, weil man ihr Gelingen logischerweise ja nicht bemerkt.

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Die Ungerechtigkeit zeigt sich auch global bei der Verteilung der Impfstoffe. Wäre ein Patent-Verzicht die Lösung?

Petra Bahr: Die Pandemie wird erst zu Ende sein, wenn sie auch in anderen Gegenden der Welt zu Ende ist. Gerade deshalb wäre es nötig, viel schneller für eine gerechte Verteilung der Impfstoffe zu sorgen. Welche Instrumente die richtigen sind, kann ich nicht beurteilen.

Nehmen wir den globalen Süden generell zu wenig in den Blick?

Petra Bahr: Er gerät zunehmend aus dem Blick, auch zu unserem eigenen Schaden. Die Pandemie hat unglaublich viel von dem zerstört, was sich in diesen Ländern in den vergangenen Jahren entwickelt hat, den Zugang zur Bildung, besonders von Mädchen, die medizinische Versorgung, wirtschaftliche Perspektiven, Klimaschutzinitiativen. Wir bemerken das kaum, obwohl es enorme Folgen auch für Europa haben wird.