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An der polnisch-belarussischen Grenze : Lukaschenkos Erpressung

Die vom Regime in Minsk erzeugte Flüchtlingswelle setzt die EU unter Zugzwang. Derweil entwickelt sich die Lage an der Grenze zum internationalen Medienspektakel.

22.11.2021
2024-01-08T10:51:08.3600Z
5 Min

Verstörende Bilder sind dieser Tage am polnisch-weißrussischen Straßengrenzübergang Kuznica-Brusgi in Nordostpolen zu sehen. Mit Eisenstangen und Steinen bewaffnete Migranten machten sich vergangene Woche neben der Grenzkontrollstation daran, den Grenzzaun nach Polen zu beschädigen. Die Polen ließen einen Wasserwerfer auffahren und trieben die paar hundert Personen zurück. Doch dann griffen weitere Migranten den Übergang direkt an. Nur der massive Einsatz polnischer Grenzwächter verhinderte auch dort, dass sie die Grenze passieren konnten. Bei den zweistündigen Auseinandersetzungen wurden laut offiziellen polnischen Angaben zwölf Polizisten verletzt.

Vom belarussischen Regime unterstützt

Live übertragen wurde alles vom weißrussischen staatlichen Propagandasender "Belarus-1". Durchnässte, Steine werfende Migranten waren dort die Helden der Show. Immer wieder wurden weinende Flüchtlingskinder und verzweifelte Mütter gezeigt. Offenkundig wurden die Flüchtlinge von Schergen des Regimes von Präsident Alexander Lukaschenko unterstützt. Unbewaffnete Beamte versorgten sie mit immer neuen Ladungen von Steinen, andere Uniformierte bildeten ein Spalier hinter dem Grenzschutzhäuschen, um die Flucht der Migranten zurück in die belarussischen Wälder zu verhindern.

Foto: picture-alliance/dpa/Ulf Mauder

Migrantencamp an der Grenze zu Polen. Laut Schätzungen der demokratischen belarussischen Opposition im Exil befinden sich zwischen 8.000 und 22.000 Flüchtlingen in Belarus.

Polen indes gibt sich standhaft und lässt keine Migranten durchkommen. Neben hunderten Soldaten, Polizisten und Tränengaswerfern wurden spezielle Lautsprecherwagen aufgestellt. "Niemand darf die Grenze ohne entsprechende Dokumente überschreiten", lautet die Durchsage auf Englisch und Arabisch. "Die Weißrussen haben euch betrogen. Ihr könnt von ihnen die Kosten eurer Reise zurückfordern und die Rückkehr nach Hause."

Warschau versucht so, der Lage Herr zu werden, die sich immer mehr zum internationalen Medienspektakel entwickelt. So hat Lukaschenko ausgesuchte Reporter der Weltpresse zehn Meter weiter auf die belarussische Seite der Grenze eingeladen. CNN durfte dort zusammen mit mehreren russischen TV-Crews direkt aus dem Flüchtlingslager unmittelbar am Grenzzaun berichten. Inzwischen sind die Flüchtlinge von dort in ein modernes Transport-Logistikzentrum beim Dorf Brusgi verlegt worden, wo es trocken und geheizt ist.

Erste große Rückflügen von Flüchtlingen

Ein Durchkommen in die EU gibt es für sie kaum. Seit Tagen schaffte es hier keiner mehr über die Grenze. Anders im Süden, im dichten Waldgebiet rund um das polnische Städtchen Czeremcha, wo es immer wieder zu Grenzzaun-Durchbrüchen kommt. Jede Nacht retten lokale Bürgeraktivisten mindestens einen Flüchtling aus Sümpfen und Wäldern. Der polnische Grenzschutz befreite in der Nacht zu Donnerstag 50 Kilometer östlich von Bialystok ein Ehepaar mit einer hochschwangeren Frau aus einem Sumpfgebiet - und bewahrte es damit wohl vor dem sicheren Kältetod.

Vergangenen Donnerstag hat Lukaschenko mit ersten großen Rückflügen von Flüchtlingen in ihre Heimat begonnen. Rund 380 Iraker aus Kurdistan flogen von Minsk nach Erbil. Angeblich wollten alle freiwillig wieder in ihre Heimat zurück, weil sich der Weg in die EU als schwieriger erwiesen hatte als erwartet. In den nächsten Tagen soll ein zweiter solcher Rückflug nach Bagdad stattfinden. Doch noch immer befinden sich laut Schätzungen der demokratischen belarussischen Opposition im Exil noch 8.000 bis 22.000 Flüchtlinge in Belarus. Wahrscheinlich ist, dass sie die Einreise in die EU zumindest versuchen.


„Bisher haben wir beide für euch gejagt, von nun an müsst ihr das selber tun.“
Alexander Lukaschenko, Präsident von Belarus

Von den Behörden in Belarus oder privaten Schleusern werden sie seit August vor allem an die polnische Ostgrenze geschickt. Der Grund dafür liegt in den Spannungen zwischen der EU und Belarus, die spätestens mit den gefälschten belarussischen Präsidentschaftswahlen am 9. August 2020 begannen und im Mai 2021 eskalierten. Damals zwang ein belarussischer Kampfjet eine Ryanair-Maschine zur Landung, um den darin befindlichen oppositionellen Blogger Raman Pratassewitsch festzunehmen. Die EU verhängte daraufhin Sanktionen gegen Belarus, Lukaschenko drohte als Antwort darauf, künftig weder Flüchtlinge noch Drogen an der EU-Außengrenze abzufangen. "Bisher haben wir beide für euch gejagt, von nun an müsst ihr das selber tun", höhnte er.

Litauen: Bau eines 550 Kilometer langen Grenzzauns

Kurz darauf sahen sich Litauen und Lettland mit aus Belarus kommenden Flüchtlingen aus Nahost und Afrika konfrontiert. Litauen ließ zunächst 4.000 ins Land und baute für sie Notunterkünfte; Ende Juli ging es aber zu ersten Rückführungsmaßnahmen über. Die Flüchtlinge wurden dazu aufgerufen, die Straßenübergänge zu benutzen und dort Asylanträge zu stellen. Die Armee begann mit dem Bau eines Grenzzauns auf rund 550 Kilometern grüner Grenze mit Belarus.

Ab Anfang August verlagerte sich die von Lukaschenko künstlich eingerichtete Flüchtlingsroute auf Polen, das eine rund 180 Kilometer lange grüne Grenze mit Belarus teilt. Die restlichen 238 Kilometer bildet der Fluss Bug. Die illegalen Grenzübertritte nahmen just in dem Augenblick zu, als Warschau der belarussischen Sprinterin Kristina Timanowskaja ein humanitäres Visum erteilt und ihr in Polen Personenschutz gewährt hatte. Timanowskaja hatte zuvor die Rückkehr von der Olympiade in Tokio in ihre Heimat verweigert, weil sie fürchtete, dort ins Gefängnis zu kommen. Zurzeit sitzen 873 politische Gefangene in belarussischen Gefängnissen. Allein in den vergangenen 14 Monaten wurden 4.500 Menschen von den Schergen des Lukaschenko-Regimes gefoltert.

Polen: Mauerbau kostet rund 350 Millionen Euro

Kam es im August zu rund hundert Grenzübertritt-Versuchen täglich, waren es im Oktober schon 400 pro Tag. Erst im September reagierte Polen mit dem Bau eines behelfsmäßigen Stacheldrahtzauns durch die Armee. Inzwischen hat das polnische Parlament gegen den Willen der Opposition ein Gesetz für den Bau einer Grenzmauer beschlossen, die umgerechnet rund 350 Millionen Euro kosten und 2022 fertig sein soll. Die Bauarbeiten sollen noch im Dezember beginnen. Die EU-Kommission hat eine Mitfinanzierung abgelehnt, bewilligte aber 25 Millionen Euro Soforthilfe zur "weichen" Grenzsicherung, etwa mit Nacht- sichtgeräten und Wärmekameras.

Die Migranten kommen mit Linien- oder Charterflügen vor allem von der Arabischen Halbinsel oder Istanbul nach Belarus. Sie haben ein Touristenvisum oder sind je nach Land vom Visumzwang ausgeschlossen. Kein Visum braucht auch, wer sich angeblich in Belarus mit dem russischen Impfstoff Sputnik V gegen Covid-19 impfen will. Vom Internationalen Flughafen Minsk werden sie mit Bussen in Grenznähe gebracht.

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Auf Druck der EU hat der Irak seine Flüge nach Minsk Ende August eingestellt. Die halbstaatliche "Turkish Airlines" erhöhte daraufhin aber die Kapazitäten - bis auch sie auf Drängen der EU vorletzte Woche bekanntgab, Passagiere mit Pässen aus dem Irak, Syrien und Jemen nicht mehr nach Minsk zu transportieren. Doch es kommen immer neue Verbindungen dazu, etwa über Dubai und aus dem syrischen Damaskus. Seit kurzem sind auch fünf belarussische Regionalflughäfen, darunter nahe der grenznahen Stadt Grodno, für den internationalen Luftverkehr aus Arabien freigegeben.

Ziel: de-facto-Anerkennung als Staatspräsident

Lukaschenko will mit der selbst erzeugten Flüchtlingswelle Verhandlungen mit der EU und eine de-facto-Anerkennung als Staatspräsident erzwingen. Eine solche hatte ihm Brüssel nach der Präsidentschaftswahl verwehrt. Nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Lukaschenko vergangene Woche angerufen hat, betont er immer wieder, er sei wieder willkommen auf der europäischen Bühne. Dann könnte Lukaschenko die Sanktionen entschärfen und im Idealfall wieder mit Finanzhilfen rechnen. Eine Rückkehr zur Schaukelpolitik zwischen West und Ost, die er 1994 bis 2020 nicht ohne Erfolg praktiziert hat, wäre nicht unwahrscheinlich.

Doch die Flüchtlingskrise könnte auch im Sinne Russlands sein, warnen vor allem amerikanische Beobachter. Moskau und Minsk könnten damit vor einer möglicherweise bevorstehenden russischen Invasion im ostukrainischen Donbas ablenken, heißt es. In der Tat ist unweit der Grenze zur Ukraine wieder eine große russische Truppenkonzentration zu beobachten.
 

Der Autor ist freier Korrespondent in Warschau.