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Widerstand in Russland : "Anständig zu sein, heißt Angst zu haben"

Trotz harter Repressionen begehren immer mehr Menschen gegen Putins Krieg auf.

07.03.2022
2023-10-05T17:32:13.7200Z
4 Min

Der Moskauer Angestellten Katja fällt es schwer, ihre Emotionen in Worte zu fassen. "Ich fühle mich vollkommen hilflos. Das ist ganz schrecklich." Katja schämt sich für das Handeln der russischen Regierung, bereits 2012 hat sie gegen Präsident Wladimir Putin demonstriert. "Dieser Krieg wird in unserem Namen geführt. Aber natürlich sind alle, die bei Verstand sind, dagegen." Massenproteste gibt es allerdings in Russland nicht mehr. Zu gefährlich. "Die Zeiten haben sich geändert."

Übermächtige Propaganda

Denn viele wissen schlicht nicht, was Putin derzeit in der Ukraine anrichtet. Sie glauben der Propaganda: Die Ukraine habe aufgerüstet, Militär an der Grenze zusammengezogen und Russland müsse sich verteidigen. Einen Krieg gegen die Ukraine zu führen, befürworten dabei nur wenige.

Marina Tereschtschenko ist Journalistin und kommt eigentlich aus dem seit 2014 besetzten Luhansk, von dort ist sie nach Sewerodonezk geflohen, auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet. Als in der vergangenen Woche russische Truppen dorthin vorrückten, nahm sie einen Koffer und ihre Katze und floh weiter ins 300 Kilometer weiter westlich gelegene Dnipro. Wie die meisten Menschen im Osten der Ukraine hat sie Verwandte in Russland. Ihre Angehörigen leben in Surgut, das ist hinter dem Ural, weit im Norden. Sie hat sie angerufen und war entsetzt. "Niemand greift euch an", hörte sie da, "wartet nur, wenn Russland kommt, wird alles gut." Marina Tereschtschenko brach das Gespräch ab. Ähnlich geht es ihrem Mann. Dessen Verwandte leben in Belarus: "Wir befreien die Ukraine", erzählten sie ihm am Telefon.

Der Kreml verbreitet seit Jahren die Lüge, die Ukraine werde von Faschisten regiert. Gemeint sind damit Demokraten. Viele Menschen in Russland glauben das. "Ihnen wurde Jahrzehnte lang das Hirn gewaschen", sagt Tereschtschenko, "es wird Jahre dauern, ihnen die Augen zu öffnen".

900.000 unterzeichnen Petition

In ganz Russland versuchen Menschen dennoch, mit Protestaktionen ihre Mitbürger aufzuklären. Oft sind es kleinere Gruppen, die sich finden, manchmal ein paar Hundert, wie in St. Petersburg. Immer wieder gibt es spontane und unkoordinierte Aktionen Einzelner gegen den Krieg. Doch die Polizei greift hart durch: Wer gegen das Demonstrationsverbot verstößt, dem drohen harte Strafen. Lew Ponomarjow, mit 80 Jahren ein Urgestein der russischen Menschenrechtsszene, hat eine Petition gegen den Krieg auf den Weg gebracht. In den ersten zwei Tagen hatten mehr als 900.000 Menschen unterzeichnet, auch Katja: "Das sind natürlich immer noch wenig Unterschriften. Aber so viele in so kurzer Zeit hat es in unserem Land noch nicht gegeben." Auch einzelne Berufsgruppen haben Protestbriefe veröffentlicht, Journalisten ebenso wie Wissenschaftler. Das Moskauer Ausstellungszentrum Garasch verschob aus Protest Ausstellungen. Und der junge Dirigent Iwan Welikanow positionierte sich vor einer Aufführung der Oper "Figaros Hochzeit" gegen den Krieg. Dann dirigierte er einen Auszug aus Beethovens 9. Symphonie Ode an die Freude, "weil diese Musik die Idee des Friedens am besten ausdrückt." Er wurde entlassen.

In sozialen Medien äußern sich russische Künstler unterschiedlicher Couleur unter Hashtags wie #netvojne, #neinzumKrieg. Einer der ersten, der seine Stimme erhob, war der populäre Rapper Oxxxymiron. In einem Video forderte er eine Friedensbewegung ähnlich der in den USA in den 60er- und 70er-Jahren gegen den Vietnamkrieg. "Die Regierung der USA wollte diese Bewegung damals als unpatriotisch verunglimpfen", erläuterte der Rapper, "aber die Geschichte hat gezeigt, dass die Menschen im Recht waren". Und Manischa, 2020 russische Vertreterin beim Eurovision Song Contest, postete bei Instagram: "Die heutige Aggression geschieht gegen meinen Willen, gegen den Willen meiner Familie, ich glaube, auch gegen den Willen unserer Völker". Manischas Schwiegermutter kommt aus der Ukraine.

Sanktionen werden spürbar

Dass etwas nicht in Ordnung ist, merken immer mehr Russen. Es wird schwieriger, Geld abzuheben. Geschäfte schließen, Russland ist mit jedem Tag isolierter. Noch schiebt die Propaganda das dem "aggressiven Westen" in die Schuhe. Ob das langfristig Erfolg hat oder ob die Regierung überzogen hat, wird sich zeigen. Denn noch gibt es nicht genug Nachrichten über tote Soldaten, die die Wut in den Familien und das Verlangen, das Sterben zu stoppen, schüren könnten.

Die Moskauerin Katja ist skeptisch und fürchtet, dass es viel zu lange dauern wird, den Schaden noch zu begrenzen: "Ich denke, es wird in der nächsten Zeit sehr schlimm. Und dann fügt sie noch hinzu: In Russland heute anständig zu sein, heißt Angst zu haben." Wie zur Bestätigung hat die Duma, das russische Parlament, am vergangenen Freitag die Verbreitung von Falschinformationen über die Armee unter hohe Strafe gestellt. 15 Jahre Haft drohen im Extremfall.

Der Autor ist freier Osteuropa-Korrespondent.