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Geflüchtete aus der Ukraine : Offene Arme

Hunderttausende sind bereits aus der Ukraine geflohen; am Ende könnten es mehrere Millionen sein. Die EU will sie in ungewohnter Einigkeit unbürokratisch aufnehmen.

07.03.2022
2023-10-05T17:28:39.7200Z
5 Min
Foto: picture-alliance/dpa/Marton Monus

Aus der Ukraine geflüchtete Frauenin einer zur Notunterkunft umfunktionierten Turnhalle im ungarischen Zahony

Die ersten Flüchtlinge kamen kurz nach Kriegsbeginn in Berlin an. Es waren Ukrainer, aber auch so genannte Drittstaatler, also Menschen, die bis zuletzt in der Ukraine lebten, ohne deren Staatsbürger zu sein. Sie fanden im Ankunftszentrum von Reinickendorf (siehe auch Seite 12) ebenfalls eine erste Zuflucht. "Wir richten uns auf mindestens 20.000 Menschen ein, die wir hier in Berlin unterbringen müssen", sagte die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) ein paar Tage später.

Manches erinnert an das Jahr 2015, als zunächst wenige und dann immer mehr Menschen vor allem aus Syrien, dem Irak und Afghanistan nach Deutschland kamen und damit auslösten, was bald als "Flüchtlingskrise" bezeichnet wurde. Stand seinerzeit eine Weile der Münchner Hauptbahnhof im Zentrum, so ist es heute der in Berlin. Allerdings sind die Unterschiede zwischen der damaligen Situation und der heutigen deutlich - auch wenn es jedes Mal um Schutzsuchende geht.

Sehr viel näher

Ein Unterschied besteht darin, dass die Ukraine geographisch sehr viel näher an Deutschland liegt als der Mittlere Osten; zwischen Görlitz in Ostsachsen und Lwiw in der Westukraine liegen gerade mal 750 Kilometer. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die sprichwörtlichen jungen Männer im Treck der Flüchtlinge diesmal fehlen, weil Männer im wehrfähigen Alter bis zuletzt von ukrainischen Sicherheitskräften an der Ausreise gehindert wurden. Sie sollen sich an der Verteidigung des Landes gegen den russischen Angriff beteiligen.

Weitaus willkommener

Ein dritter Unterschied sticht ebenfalls ins Auge. Die ukrainischen Flüchtlinge sind in Deutschland weitaus willkommener, als es Syrer, Iraker und Afghanen waren und sind; 91 Prozent der Bürger sind einer aktuellen Umfrage zufolge für ihre Aufnahme. Das hat neben der Nähe der schrecklichen Ereignisse vermutlich auch damit zu tun, dass Ukrainer überwiegend Christen sind und keine Muslime. Dies führt zum vierten Unterschied: Die Flüchtlinge sind nämlich nicht nur in Deutschland willkommen, sondern in ganz Europa. Das gleicht gemessen an den Auseinandersetzungen der Jahre zuvor einer politischen Sensation und hat wiederum sehr praktische Konsequenzen.

So haben sich die Innenminister der Europäischen Union wenige Tage nach Kriegsbeginn einmütig darauf verständigt, die ankommenden Ukrainer und die besagten Drittstaatler samt und sonders als Kriegsflüchtlinge einzustufen - und zwar zunächst für maximal drei Jahre. Das - und dies ist der Sinn der Sache - macht den bürokratischen Umgang mit ihnen deutlich leichter.

Die Fliehenden müssen keine Asylanträge stellen, deren Bearbeitung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) lange dauern könnte; der Status der Menschen ist vielmehr praktisch in dem Moment geklärt, in dem sie nachweisen können, dass sie tatsächlich aus der Ukraine kommen. Da die Betroffenen vielfach über biometrische Pässe verfügen, ist der Nachweis einfach - einfacher, als er es bei Syrern, Irakern und Afghanen war, die nicht selten gar keine Papiere hatten. Mit Sicherheitsproblemen wird bisher nicht gerechnet. Entsprechend dürften die Sicherheitsbehörden keine Bedenken äußern.

Klar ist ferner, dass die Flüchtlinge ihren Wohnort in Deutschland zwar nicht frei wählen können, sondern auf die 16 Bundesländer nach dem so genannten Königsteiner Schlüssel und damit gemessen an deren Größe verteilt werden. Dabei müssen sie aber nicht zwangsläufig in Erst- und Sammelunterkünfte gehen, wenn sie nicht wollen, sondern können stattdessen zum Beispiel zu Freunden oder Verwandten ziehen, wenn sie in Deutschland welche haben. So unwahrscheinlich ist das nicht. Bisher lebten rund 155.000 ukrainische Staatsangehörige in Deutschland, die Zahl der Menschen mit ukrainischem Migrationshintergrund ist ungleich größer. Erst- und Sammelunterkünfte werden für ukrainische Flüchtlinge erst dann ein Thema, wenn an anderen Orten kein Wohnraum zur Verfügung steht - und wenn die Länder dort Plätze anbieten können. Das ist nicht immer so.

Niedrige Impfquote

Dabei tut sich noch ein Problem am Rande auf, nämlich die im Vergleich mit Deutschland deutlich niedrigere Impfquote der Menschen in der Ukraine. An diesem Montag soll das Thema auf der Gesundheitsministerkonferenz diskutiert werden. Berlins Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne) nannte es mit Blick auf die niedrige Impfquote in der Ukraine sehr sinnvoll, Impfkapazitäten und Impfstellen bereitzuhalten. "Wir werden dieser Gruppe dann sehr zügig die Impfung ermöglichen", sagte sie.

Fest steht schließlich, dass ukrainische Kriegsflüchtlinge Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen. Diese liegen unter dem Niveau der Grundsicherung für Arbeitslose oder der Sozialhilfe. Auch der Krankenversicherungsschutz ist gewährleistet. Dabei dürfen sie anders als andere Flüchtlinge mit ungeklärtem Schutzstatus jedoch sofort arbeiten. Darauf hatte unter anderem Berlin Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) gedrungen. Sie zitierte erste Flüchtlinge in Reinickendorf mit den Worten: "Wir wissen nicht, wann wir zurück in unsere Heimat können, wir wollen uns hier mit Arbeit einbringen. Tatenlos rumzusitzen wäre für uns nicht auszuhalten." Dem müsse man Rechnung tragen, betonte Kipping. Ein paar Tage darauf sagte sie mit Blick auf die Gesamtsituation: "Das, was auf uns zukommt, wird enorm."

»Historische Einigung«

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sagte unterdessen nach der Übereinkunft der EU-Innenminister, der "verbrecherische Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine verursacht schreckliches Leid. Angesichts dieses Schreckens rücken wir in Europa enger zusammen. Wir Europäerinnen und Europäer helfen gemeinsam den Kindern, Frauen und Männern, die vor dem entsetzlichen Krieg Schutz und Zuflucht suchen." Die erzielte Einigung nannte sie historisch. "Erstmals nehmen alle Staaten der EU gemeinsam, schnell und unbürokratisch aus dem Krieg geflüchtete Menschen auf", so Faeser. Die einschlägige Richtlinie zur Bewältigung eines Massenzustroms, die nach den Balkan-Kriegen für einen solchen Fall geschaffen worden sei, werde erstmals angewendet. Über die Umsetzung sei sie mit den Ländern im Kontakt.

Die große offene und derzeit von niemandem zu beantwortende Frage lautet, wie viele Flüchtlinge aus der Ukraine sich auf den Weg nach Deutschland machen werden. Im Januar, also lange vor Kriegsbeginn, stellten 107 Frauen und Männer aus der Ukraine einen Asylantrag in Deutschland. Bald nach Kriegsbeginn hatten sich dann zunächst 1.800 Kriegsflüchtlinge in Deutschland eingefunden, tags darauf waren es schon 3.000 - bei bis dahin 414.000 ukrainischen Flüchtlingen in Europa insgesamt, von denen zunächst 212.000 in Polen landeten. Am vorigen Donnerstag waren in Deutschland offiziell 5.000 Flüchtlinge registriert, die tatsächlichen Zahlen dürften weit höher liegen. Schätzungen, wie viele Menschen die Ukraine am Ende des Krieges tatsächlich verlassen haben könnten, sind unterschiedlich und reichten zuletzt bis zu fünf Millionen. Immerhin leben in der Ukraine rund 40 Millionen Menschen - eigentlich.

»Keine Prognose«

Die Zahl dürfte am Ende wesentlich davon abhängen, wie lange dieser Krieg andauert und wie viele Zerstörungen er anrichten wird. Über all das und die Konsequenzen wollte man in Berliner Regierungskreisen in der vorigen Woche noch "keine Prognose" abgeben. Es gilt wie seit Beginn des Krieges: Alles ist möglich, und nichts ist ausgeschlossen.

Der Autor ist Hauptstadt-Korrespondent des Redaktionsnetzwerks Deutschland.