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Krieg in der Ukraine : Neue Entschlossenheit

Russlands Krieg gegen die Ukraine ist eine Zäsur für Europa - und für die deutsche Sicherheitspolitik. Der Kanzler spricht von einer "Zeitenwende".

07.03.2022
2024-02-23T10:17:07.3600Z
5 Min
Foto: picture-alliance/dpa/EPA/Kozlov

Ein Mitglied der territorialen Verteidigungskräfte der Ukraine in der beschädigten Regionalverwaltung in Charkiw nach einem Beschuss in der Innenstadt.

Der Beschluss hat keine direkten Konsequenzen. Aber er dokumentiert, in welche Lage der russische Präsident sein Land gebracht hat. 141 Staaten der Welt haben in der vergangenen Woche Russlands Angriff auf die Ukraine verurteilt und den Abzug russischer Truppen aus dem Land gefordert. An die Seite Russlands stellten sich in der Vollversammlung der Vereinten Nationen nur Syrien, Nordkorea, Belarus und Eritrea.

Der Krieg in der Ukraine erschüttert die Welt, und er erschüttert den europäischen Kontinent. Auf einen solchen Rückfall in kriegerische Großmachtpolitik ist man nicht eingestellt gewesen. Der Konflikt hat unabsehbare Folgen. Sie gehen weit über diesen Krieg hinaus, weil sich zeigt, auf welch schwankendem Grund die europäische Friedensordnung der vergangenen drei Jahrzehnte steht.

Die Länder der Europäischen Union haben gemeinsam mit den USA sehr schnell Geschlossenheit hergestellt und weitreichende Sanktionen gegenüber Russland auf den Weg gebracht. Nach verbreiteter Lesart hat der russische Präsident Wladimir Putin den Behauptungswillen der liberalen Demokratien des Westens unterschätzt. Seine zweite Fehleinschätzung betrifft offenkundig den Widerstand der Ukrainer, denen er in seiner Fernsehansprache eine eigene Staatlichkeit noch absprechen wollte.

Militärexperten rechnen mit einer Zunahme der Gewalt. Zu erwarten ist massiver Beschuss ukrainischer Großstädte durch Artillerie und Luftwaffe der russischen Streitkräfte, auch auf zivile Einrichtungen. Auch eine lang andauernde Belagerung der Hauptstadt Kiew ist nicht mehr ausgeschlossen. Die Nachrichtenbilder von Zerstörungen in ukrainischen Städten zeigen, dass dieser Krieg sich nicht auf militärische Ziele beschränkt, wie es die russische Seite anfangs vorgab tun zu wollen.

Mehr als eine Million Flüchtlinge

Europa stellt sich unterdessen auf die Unterbringung ukrainischer Flüchtlinge ein. Nach Zahlen der Vereinten Nationen haben bis zum Ende vergangener Woche mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine Zuflucht in der EU gesucht, etwa die Hälfte davon in Polen. Die Hilfsbereitschaft ist groß, in vielen Städten Europas, darunter auch in deutschen, gab es Großdemonstrationen gegen die russische Aggression. Der Tag des Angriffs Russlands auf die Ukraine, teilt die Welt in ein Davor und ein Danach, so wird es in diesen Wochen nun häufig beschrieben. Und auch für die deutsche Politik ändert sich das Koordinatensystem fundamental. Das Bild der Sonderrolle Deutschlands für Russland hat bereits in den vergangenen Jahren viele Risse bekommen. Mit Blick auf den amtierenden russischen Präsidenten will man sich keinen Illusionen mehr hingeben.


„Wir müssen deutlich mehr in die Sicherheit unseres Landes investieren, um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen.“
Bundeskanzler Olaf Scholz

Das zeigte sich über die Fraktionsgrenzen hinweg in einer Sondersitzung, zu welcher der Bundestag auf Verlangen von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am vorvergangenen Sonntag kurzfristig zusammenkam. Bereits in den Stunden und Tagen zuvor hatte die Bundesregierung Positionen revidiert - von der Frage des Ausschlusses Russlands aus dem Zahlungssystem Swift bis zum Einfrieren des Gaspipeline-Projekts Nord-Stream 2. In der Debatte zeigte sich die Bereitschaft, mit weiteren Gewissheiten abzuräumen: In der Russland- und Ostpolitik ohnehin, aber weit darüber hinaus auch in der Verteidigungs-, Rüstungs- und der Energiepolitik.

Von einer "Zeitenwende" sprach Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung. Angesichts einer Weltlage, in der das Land am Küchentisch wieder über die Bedrohung durch Atomwaffen spricht, wollte der Kanzler erkennbar ein Zeichen setzen. "Wir müssen deutlich mehr in die Sicherheit unseres Landes investieren, um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen." Dafür werde man von nun an Jahr für Jahr zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung investieren. Dieses Nato-Ziel ist bei Sozialdemokraten und Grünen lange umstritten gewesen, ebenso wie die nukleare Teilhabe Deutschlands im Rahmen des Bündnisses. Scholz stellte sich ausdrücklich hinter den Ersatz "für die veralteten Tornado-Jets" der Bundeswehr als Träger taktischer US-Atomwaffen. Er kündigte an, ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für das Militär aufzulegen. Das Ziel sei "eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt".

Vermeintliche Gewissheiten

Unterstützung signalisierte die größte Oppositionsfraktion. Wenn Scholz eine umfassende Ertüchtigung der Bundeswehr wolle, werde die Union auch gegen Widerstände den Weg mit dem Kanzler gehen, sagte Unionsfraktionschef Friedrich Merz. Man werde "nicht im Kleinen herummäkeln", sagte der CDU-Vorsitzende. Allerdings müsste die Frage neuer Schulden "in Ruhe und im Detail besprochen" werden. Merz hielt mit Blick auf vermeintliche Gewissheiten fest: Einseitige Abrüstung habe nicht zu mehr, sondern zu weniger Sicherheit geführt.

Auch die Ampel-Koalitionspartner bezogen neue Positionen. Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen verteidigten Waffenlieferungen an die Ukraine - ein Bruch mit dem Grundsatz, Rüstung nicht in Konfliktgebiete zu exportieren. Habeck argumentierte, er achte die Position des unbedingten Pazifismus, "aber ich halte sie für falsch, denn schuldig werden wir trotzdem". Deutschland könne die Ukraine nicht allein lassen.

Finanzminister Christian Lindner (FDP) lenkte den Blick auf die Energiesicherheit und die Abhängigkeit von russischem Gas. "Erneuerbare Energien lösen uns von Abhängigkeiten." Und weiter: Neue Schulden für die Ausstattung der Bundeswehr bedeuteten in dieser Weltlage "Investitionen in die Freiheit".

Die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel sprach von einer Mitverantwortung des Westens für die Eskalation, auch wenn dies nichts an der "Verwerflichkeit des russischen Einmarsches" ändere. Die Herausforderung, eine europäische Sicherheitsarchitektur zu schaffen, die das Ost-West-Blockdenken überwinde, sei indes nicht vom Tisch.


„Wir sehen die Lage heute anders und sagen klar: Putin ist hier der Aggressor und muss sofort aufgehalten werden.“
Amira Mohamed Ali, Fraktionsvorsitzender der Linken

Für die Linksfraktion räumte die Vorsitzende Amira Mohamed Ali Fehleinschätzungen ein. "Wir sehen die Lage heute anders und sagen klar: Putin ist hier der Aggressor und muss sofort aufgehalten werden." Waffenlieferungen und das "Hochrüsten" der Bundeswehr werde man aber weiter nicht mittragen.

Wie grundlegend sich die Prämissen verändert haben, zeigte vergangenen Woche eine Äußerung ihres Parteikollegen Bodo Ramelow: Thüringens Ministerpräsident dachte öffentlich über eine allgemeine Wehr-und Dienstpflicht nach - ein Vorschlag, der zunächst erneut aus der Union ins Spiel gebracht wurde. Vertreter der Koalition wiesen diese Idee zurück: Die Bundeswehr brauche keine Wehrpflichtigen, sondern vor allem Investitionen in Ausrüstung. Minister Habeck bekräftigte unterdessen, den Umstieg auf erneuerbare Energien noch stärker beschleunigen zu wollen. Er will aber auch Laufzeitverlängerungen für Kohle- und Kernkraftwerke nicht mehr ausschließen.

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Ein sozialdemokratischer Kanzler, der die Bundeswehr aufrüsten will, ein FDP-Finanzminister, der dafür neue Schulden aufzunehmen bereit ist, ein Wirtschaftsminister der Grünen, der die Versorgungssicherheit noch vor Klimaschutz-Ambitionen stellt: In den Parteien des Ampelbündnisses verschieben sich unter dem Eindruck des Krieges die Prioritäten. Die Frage, inwieweit sich Teile von SPD, Grünen und FDP mit diesem Kurswechsel schwer tun, könnte die Koalition in den kommenden Woche und Monaten noch beschäftigen.

Fest an der Seite der Ukraine

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) bezeichnete zu Beginn der denkwürdigen Sondersitzung des Parlaments den russischen Überfall als einen "klaren Bruch des Völkerrechts und ein Angriff auf die Prinzipien der freiheitlichen Welt". Der Deutsche Bundestag und die Menschen in Deutschland stünden fest an der Seite der freien und demokratischen Ukraine. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP), der die Sitzung nach dreieinhalb Stunden schloss, sagte: "Wir trauern mit den Opfern der Ukraine." Und er ergänzte: "Aber es trauern auch Mütter und Väter in Russland um ihre Söhne, die in einem sinnlosen Angriffskrieg durch ihren eigenen Präsidenten geopfert worden sind."

Es ist kein Krieg der Russen gegen die Ukrainer, sondern einer, den die russischen Führung entfesselt hat: "Putins Krieg", wie der Kanzler es ausdrückte.