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Buchrezension : Der Schweinswalfrieden

Anna Sauerbrey geht in ihrem Buch "Machtwechsel" der Frage nach, wie sich die neue Generation, die den Wechsel wählte, von der Babyboomer-Generation unterscheidet.

23.05.2022
2024-02-26T15:38:36.3600Z
4 Min
Foto: picture-alliance/Geisler-Fotopress/Sebastian Gabsch

Generation X auf der Regierungsbank: Hubertus Heil (SPD), Marco Buschmann (FDP), Annalena Baerbock (Grüne), Nancy Faeser (SPD), Christian Lindner (FDP) und Robert Habeck (Grüne).

Nach der Bundestagswahl im September 2021 "dämmert der Seniorenrepublik Deutschland, dass sich etwas getan hat", schreibt die Journalistin Anna Sauerbrey. Der Bundestag ist mit einem Durchschnittsalter von 47,5 Jahren so jung wie seit 1990 nicht mehr. Die Jungen hatten überwiegend die Grünen oder die FDP gewählt. Damit gelangte die Generation X, geboren zwischen 1965 und 1980, an die Schalthebel der Macht. Auch die Generation Y (Millennials), also die Jahrgänge 1981 bis 1996, sind bereits gut im Parlament vertreten.

Laut Sauerbrey hat die letzte Bundestagswahl Klischees widerlegt: Die Generation Z (Zoomer) der Jahrgänge 1997 bis 2010 sei keine Generation Fridays for Future. Die Erstwähler erwarteten weniger einen Umverteilungsstaat als vielmehr einen Staat, der die Probleme gut manage, auch den Klimawandel, meint der Soziologe Steffen Mau. Unter den jungen Wählern gebe es "Ökoliberale" und "Ökosoziale", viele Pragmatiker, dafür wenige Ideologen.

Von der Ausnahme zur Regel

Worin unterscheidet sich die neue Generation, die den Machtwechsel wählte, von der Babyboomer-Generation Angela Merkels? Wieso versteht sich die Ampel-Regierung als Regierung des Fortschritts, obwohl Bundeskanzler Olaf Scholz auch zu den Babyboomern gehört? Was will die Ampel-Generation anders machen? Der Generationenwechsel bedeute mehr als ein neuer Dresscode; meint Sauerbrey: Man trägt jetzt weiße Sneaker zu Anzug ohne Krawatte. Vorreiter war einst Joschka Fischer, dessen weiße Turnschuhe heute im Museum zu bewundern sind. Und die weiblichen Abgeordneten brachten auch schon früher ihre Kinder mit in den Bundestag. Der Unterschied: Was früher die Ausnahme war, ist heute die Regel.

 "Allein der Untertitel des Buches ist irreführend. Denn Sauerbrey schildert nicht, wie eine neue Politikergeneration das Land verändert, sondern wie sie an die Macht gelangte."

Die Generation X beschreibt Sauerbrey als "flexibel" und "unideologisch". Mehrheitlich habe sie bislang kein historisches Ereignis geprägt, die Wirtschafts- und Finanzkrisen hätten sie nicht hart getroffen. Aufgewachsen seien sie im "geschichtslosen" Zeitalter nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes. Sogar für die ostdeutsche Generation X sei die Wiedervereinigung "keine erfahrene Geschichte, sondern vermittelte", schreibt Sauerbrey und verweist auf die Berichte der aus der DDR stammenden Politiker. Erst mit den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem "Krieg gegen Terror" sei die Geschichte zurückgekehrt. Seitdem werde die für selbstverständlich gehaltene liberale Demokratie infrage gestellt, sagt einer der Architekten der Ampel, der FDP-Politiker Marco Buschmann. Nach der Jahrtausendwende habe die Globalisierung weiter an Tempo zugelegt und die marktwirtschaftlichen Gesellschaftsmodelle geprägt. Unterdessen stellte sich die Generation X diesen Herausforderungen, auch der Flüchtlingskrise des Jahres 2015, in deren Sog die Identitätspolitik und die populistische Rechte in Europa erstarkte. Viele Politiker der Gen-X bestanden diese Demokratie-Probe und äußerten - wie der Grüne Cem Özdemir - harsche Kritik an der "Identitätspolitik".

Gute Recherche, aussagekräftige Politiker-Interviews

Robert Habeck handelte vor Jahren mit den Fischern im schleswig-holsteinischen Eckernförde einen Kompromiss aus, um die Schweinswale zu retten. Es wurde eine Lösung gefunden, die umweltpolitische Interessen genauso berücksichtigte wie marktwirtschaftliche. "Die Generation Sneaker" sei genau das: "Ein großer gesellschaftspolitischer Schweinswalfrieden", schreibt Sauerbrey. Es sei kein Zufall, dass diese Generation gut mit der Zersplitterung der Parteienlandschaft umgehen könne und erklärt, warum ein Jamaika-Bündnis 2017 noch scheiterte. Neben der De-Ideologisierung habe im Herbst 2021 eine große Rolle gespielt, dass sich die potenziellen Koalitionäre auf Augenhöhe begegnet seien, als "gleichberechtigte Partner". Die Größe der Parteien sei nicht entscheidend gewesen. Diese Haltung hätten die jungen Politiker der Grünen und der FDP vorausschauend in der Whiskybar "Lebensstern" in der Berliner Kurfürstenstraße eingeübt.

So muss ein politisches Buch sein - exzellent recherchiert, viele aussagekräftige Interviews mit Politikern aus der ersten Reihe, ergänzt um Hintergrundinformationen über die politischen Vorgänge in der "Berliner Bubble"; hinzukommen ausgezeichnete soziologische und politikwissenschaftliche Analysen renommierter Wissenschaftler. Anna Sauerbrey ist ein rundum empfehlenswertes Buch geglückt, das die Gründe für den Machtwechsel im Jahr 2021 anschaulich darlegt. Allein der Untertitel des Buches ist irreführend. Denn Sauerbrey schildert nicht, wie eine neue Politikergeneration das Land verändert, sondern wie sie an die Macht gelangte. Wie die Neuen das Land umstrukturieren wollen, wird allein auf den letzten Seiten mit einer sehr kurzen Zusammenfassung des Koalitionsvertrages skizziert.

Beim Redaktionsschluss des Buches standen Putins Truppen noch an der Grenze zur Ukraine. Daher berichtet die Journalistin nur über das PR-Desaster, das im Zuge der Lieferung von fünftausend Helmen an Kiew entstanden war. Wie die deutsche Politik die angekündigte radikale "Zeitenwende" meistern wird, können wir im besten Fall in Anna Sauerbreys nächstem Buch nachlesen.

Anna Sauerbrey:
Machtwechsel.
Wie eine neue Politikergeneration das Land verändert.
Rowohlt,
Berlin 2022;
320 Seiten, 22,00 €