Piwik Webtracking Image

Reform des Wahlrechts : "Zweitstimmendeckung" versus "Grabenwahlrecht"

Die Ampelkoalition setzt in der Reformkommission ihre Eckpunkte zur Verkleinerung des Bundestags durch

11.07.2022
2024-04-17T12:12:23.7200Z
3 Min

Den Bundestag mit jetzt 736 auf die Regelgröße von 598 Abgeordneten zu verkleinern, hat sich die Wahlrechtskommission zum Ziel gesetzt. Das Gremium, bestehend aus 13 Abgeordneten und 13 Sachverständigen, hat vergangene Woche Eckpunkte für eine Änderung des Wahlverfahrens beschlossen. Sie sollen in den Zwischenbericht einfließen, den die Kommission Ende August vorlegen wird.

Die Eckpunkte wurden mit der Mehrheit der Ampel-Koalition gegen die Stimmen der Union bei Enthaltung der AfD und der Linken beschlossen. Sie basieren auf einem Vorschlag, den die Koalitionsobleute Sebastian Hartmann (SPD), Till Steffen (Grüne) und Konstantin Kuhle (FDP) im Mai veröffentlicht hatten. Entscheidende Neuerung ist, dass das Zweitstimmenergebnis die Zahl der Mandate bestimmt, die den Parteien zustehen. Das hat zur Folge, dass ein mit Erststimmen direkt gewonnener Wahlkreis den Einzug in den Bundestag nicht mehr garantiert. Erringt eine Partei in einem Land mehr Direktmandate als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, werden die überzähligen mit dem geringsten Erststimmenergebnis gekappt. Das ist die sogenannte "Zweitstimmendeckung", das tragende Element des Vorschlags.

Nach dem jetzigen Wahlrecht ist der Wahlkreiskandidat mit den meisten Erststimmen automatisch gewählt, unabhängig vom Zweitstimmenergebnis seiner Partei. Das hat zur Folge, dass eine Partei aufgrund vieler direkt gewonnener Wahlkreise mehr Mandate erhalten kann, als ihr nach Zweitstimmen zustehen. Diese Überhangmandate werden durch zusätzliche Mandate der übrigen Parteien ausgeglichen, bis das Kräfteverhältnis nach Zweitstimmen wieder hergestellt ist. Dies hat in der Vergangenheit zur Vergrößerung des Bundestages geführt. Vor allem die CSU hat aufgrund direkt gewonnener Wahlkreise mehr Mandate eingesammelt, als ihr nach Zweitstimmen zustanden.

Ersatzstimmen für unbesetzte Wahlkreise

Die Kappung von Direktmandaten könnte dazu führen, dass Wahlkreise unbesetzt bleiben. Die Ampel-Obleute hatten daher vorgeschlagen, den Wählern die Möglichkeit einer Ersatzstimme für einen weiteren Kandidaten zu geben, sodass derjenige mit den meisten Erst- und Ersatzstimmen einzieht, bei dem zugleich die Zweitstimmendeckung gegeben ist. Die nun beschlossenen Eckpunkte bieten zur Ersatzstimmen-Lösung aber auch noch Alternativen an.

Die Aussicht, dass ein direkt gewonnener Wahlkreis nicht zwingend zu einem Bundestagsmandat führt, ist für die Unionsfraktion unannehmbar und auch nicht vermittelbar. Die von ihr benannten Sachverständigen in der Kommission, die Professoren Bernd Grzeszick, Rudolf Mellinghoff und Stefanie Schmahl, haben ein als Grabenwahlsystem bekannt gewordenes und mittlerweile in "echtes Zwei-Stimmen-Wahlrecht" umbenanntes Verfahren entworfen, das auf eine Stärkung des via Erststimme gewonnenen Direktmandats hinausläuft.

Auch hier soll es bei 598 Mandaten bleiben. Das Zweitstimmenergebnis müsste sich jedoch nicht mehr in der Zusammensetzung des gesamten Bundestages spiegeln, sondern nur noch in dem durch Listenkandidaten besetzten Teil. Der restliche Teil, der auch weniger als die Hälfte der Mandate ausmachen könnte, würde von den direkt gewählten Wahlkreissiegern besetzt, unabhängig vom Zweitstimmenergebnis. Berechnungen zufolge hätte die Union nach diesem Verfahren bei der Bundestagswahl 2021 mehr Mandate erhalten als die SPD. Aus Sicht der "Ampel" wäre dies eine Verfälschung des Wählerwillens.

Union und AfD sehen Absenkung des Wahlalters skeptisch

Verfassungsrechtlich spricht laut Eckpunktepapier nichts dagegen, das Wahlalter für Bundestags- und Europawahlen von 18 auf 16 Jahre abzusenken. Union und AfD sprachen sich dagegen aus, Die Linke stimmte mit der Koalition dafür. Darüber hinaus beschloss die Kommission bei Enthaltung der AfD, sich am 29. September und 13. Oktober erneut mit der Frage des Frauenanteils im Bundestag und mit Vorschlägen zu befassen, die auf eine gleichberechtigte Repräsentanz von Frauen und Männern abzielen.