Inhalt

Bündnisstrategie
Paul Flückiger
Historische Kehrtwende in Madrid

Russland ist kein strategischer Partner der Nato mehr. Norderweiterung der Allianz beschlossen

Die 30 Nato-Staaten haben sich Ende Juni bei einem Gipfeltreffen in Madrid auf ein neues Sicherheits- und Streitkräftemodell geeinigt. Das Konzept sieht vor, die Zahl der Soldaten in hoher Einsatzbereitschaft von 40.000 auf mehr als 300.000 zu erhöhen. Die Bundeswehr soll rund 15.000 Soldaten stellen. Zudem werden mehr schwere Waffen vor allem in das Baltikum und nach Polen verlegt.

In dem neuen strategischen Konzept wird Russland als größte Gefahr für das Bündnis bezeichnet. Im alten Sicherheitskonzept der Nato aus dem Jahr 2010 war Russland noch als "strategischer Partner" bezeichnet worden. Die Nato betont indes, dass sie weiterhin willens sei, Kanäle der Kommunikation mit der Regierung in Moskau offenzuhalten, um Risiken einzudämmen, eine Eskalation zu verhindern und die Transparenz zu erhöhen.

China im Blick Im neuen Sicherheitskonzept nimmt die Nato auch erstmals Stellung zu China, dessen als aggressiv empfundene Politik eine Herausforderung für die Interessen, die Sicherheit und die Werte des Bündnisses darstelle. Der Ukraine sichert die Nato ihre Unterstützung mit Waffenlieferungen zu, solange und in dem Umfang, wie dies erforderlich sei.

Die Alliierten beschlossen zudem, den gemeinsamen Haushalt noch einmal deutlich aufzustocken. Bis Ende 2030 sollen demnach mehr als 20 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung stehen. Für die Periode von 2023 bis 2030 sind es Nato-Berechnungen zufolge knapp 45 Milliarden Euro.

Norderweiterung Auch ist inzwischen der Beitrittsprozess für Finnland und Schweden in vollem Gange. Die beiden nordeuropäischen Länder haben unter dem Eindruck des russischen Angriffs auf die Ukraine beschlossen, ihre jahrzehntelange Neutralität aufzugeben und der Nato beizutreten. Den Antrag auf Mitgliedschaft in der Nato stellten sie Mitte Mai.

Die Grenze der Nato zu Russland wird sich dadurch um mehr als 1.300 Kilometer verlängern - nämlich um die Ostgrenze Finnlands zu dem ursprünglich zu Finnland gehörenden Gebiet Karelien in Russland. Beide Staaten haben jahrelang viel Geld in ihre Heere investiert, sie dürften die Nato stärken.

Reaktion Russlands Der russische Präsident Wladimir Putin hat wegen der Nato-Norderweiterung eine militärische Reaktion in Aussicht gestellt. "Werden dort jetzt Truppen stationiert und Infrastruktur eingerichtet, so werden wir gespiegelt antworten müssen und dieselben Bedrohungen für das Territorium schaffen, von dem aus wir bedroht werden", sagte er und fügte hinzu: "Alles war gut zwischen uns, aber jetzt wird es irgendwelche Spannungen geben, das ist offensichtlich."

Putin wirft der Nato vor, sich mit Hilfe der Ukraine behaupten zu wollen. Es gehe der Nato um "ihre Vorherrschaft, ihre imperialen Ambitionen", kommentierte er die Beschlüsse von Madrid.

Neue Einheiten In den neuen Frontstaaten Ostmitteleuropas wurden die Nato-Beschlüsse vom Gipfel in Madrid hingegen positiv aufgenommen. Unter dem Eindruck des russischen Überfalls auf die Ukraine hat das Parlament in der Slowakei, die im Osten auf knapp 100 Kilometer an die Ukraine grenzt, noch vor dem Nato-Gipfel ein Gesetzespaket verabschiedet, das US-Truppen zwei Flugplätze zur Verfügung stellt.

Die sogenannten Nato-"Battlegroups" in Osteuropa sollen außerdem systematisch ausgebaut werden, das gilt für Polen, Litauen, Lettland, Estland, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Diese "Battlegroups" sollen mindestens 1.000 Mann stark sein. Allein in Litauen soll die deutsche Kampftruppen-Brigade auf 3.000 bis 5.000 Mann statt bisher rund 1.500 aufgestockt werden. Die Eingreiftruppe der Nato (Nato Response Force) soll bedeutend größer werden und künftig in 10 bis maximal 50 Tagen voll einsatzfähig sein.

Beistand bekräftigt "Durch seine aggressive Politik stellt Russland wieder eine Bedrohung für Europa, für die Allianz dar", warnte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Ende des Nato-Gipfeltreffens in Madrid. Der amerikanische Präsident Joe Biden bekannte sich in Madrid erneut zur Beistandsverpflichtung nach Artikel 5 des Nato-Vertrags, nachdem vor dem Treffen verschiedentlich Zweifel an der Ernsthaftigkeit dieser Zusage aufgekommen waren.

Die Beistandsklausel sei "heilig", sagte Biden bei einem Auftritt mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Er versprach, die Nato werde "jeden Zentimeter" des Bündnisgebiets gegen Angriffe verteidigen. "Wir meinen es auch so, wenn wir sagen, ein Angriff auf einen ist ein Angriff auf alle", betonte Biden.

Der US-Präsident kündigte außerdem ein fünftes Hauptquartier der europäischen US-Streitkräfte in Polen an. Die Zahl der US-Zerstörer in Spanien soll von vier auf sechs erhöht werden, zwei zusätzliche US-Geschwader mit F-35-Kampfjets werden in Großbritannien stationiert.

In den Jahren zuvor hatte Bidens Amtsvorgänger Donald Trump die Nato noch in eine schwere Krise gestürzt, indem er mehrfach Zweifel daran weckte, ob die USA im Ernstfall ihrer Verpflichtung zum militärischen Beistand auch nachkommen würden. Zum Entsetzen der Alliierten drohte er sogar mit einem Nato-Austritt der USA.

Frühe Warnungen Nato-Mitglieder wie Polen und die drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland hatten seit Putins Machtantritt vor mehr als 20 Jahren vor Russland gewarnt und dazu geraten, hart mit dem Kreml zu verhandeln, statt einen weichen "Kuschel-Dialog" zu suchen. Die Warnungen insbesondere Polens wurden im Westen jedoch jahrelang nicht ernst genommen.

Der russische Einmarsch in die Ukraine hat den Polen im Nachhinein recht gegeben. Auf dem Nato-Gipfel von Madrid wurde dieser schmerzhaften Einsicht nun Rechnung getragen: Russland unter Putin ist nunmehr kein Partner mehr, sondern ein Gegner. Nato-Generalsekretär Stoltenberg bezeichnete diese neue Feststellung und alle weiteren Beschlüsse von Madrid am Ende des Gipfels als "historisch".

Der nächste Nato-Gipfel 2023 findet direkt an der Ostflanke des Bündnisses statt, nämlich in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Der größte und westlichste der drei Baltenstaaten hat eine gemeinsame Grenze mit der russischen Exklave Kaliningrad (Königsberg) und dem seit den Demokratieprotesten vom Sommer 2020 gezwungenermaßen mit dem Kreml eng verbündeten Belarus.

Aus Politik und Zeitgeschichte

© 2021 Deutscher Bundestag