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Streit um Atomkraftnutzung : Nach dem Machtwort

Bundeskanzler Olaf Scholz will die letzten drei deutschen Meiler bis April laufen lassen. Der Bundestag muss nun darüber entscheiden.

24.10.2022
2024-03-05T13:10:21.3600Z
5 Min

Nicht einmal fünf Minuten soll es gedauert haben, bis die 19. Atomgesetznovelle am vergangenen Mittwoch das Kabinett passiert hatte. Sie habe den Gesetzentwurf vorgestellt, berichtete die zuständige Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) anschließend den Journalisten. "Es gab keine Diskussionen."

Die hatte es davor jedoch zur Genüge gegeben. Mehr noch: Die Frage, wie viele der drei noch aktiven deutschen Atomkraftwerke - Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland - angesichts von Energieknappheit und explodierenden Strompreisen wie lange noch am Netz bleiben sollen, hatte über Wochen zu zähem Zwist in der Ampelkoalition geführt und eine Atomgesetzänderung bisher blockiert. Für einen wie auch immer gearteten Weiterbetrieb der Meiler braucht es eine neue gesetzliche Grundlage. Nach der geltenden Rechtslage erlischt am 31. Dezember die Betriebserlaubnis für alle Atomkraftwerke.

Foto: picture-alliance/dpa-infografik GmbH

Reaktor, Maschinenhaus, Kühlturm: Verglichen mit dem Streit um die Atomkraft wirkt der schematische Aufbau eines AKW geradezu einfach.

FDP will Atomkraftwerke bis 2024 nutzen, die Grünen nicht

 Doch selbst die Zeitnot schien die Kontrahenten nicht zur Räson zu bringen: Während die FDP mit Verweis auf die Ergebnisse des Netzstresstests drängte, nicht auf die Brückentechnologie Atomkraft zu verzichten und alle drei Meiler noch bis 2024 in Betrieb zu lassen, zogen die Grünen ihrerseits rote Linien: Auf ihrem Parteitag am vorletzten Wochenende lehnten sie den Weiterbetrieb des AKW Emsland und eine Verlängerung der Laufzeiten über den Winter hinaus kategorisch ab. Für den Notfall sollten nur zwei Meiler in der Reserve gehalten werden. Die Beschaffung neuer Brennstäbe werde es nicht geben, so das Votum der Delegierten.

Eine verfahrene Situation, die erst ein an Umweltministerin Lemke, Wirtschaftsminister Robert Habeck (beide Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) gerichtetes Schreiben zu lösen vermochte: Nüchtern im Ton, unmissverständlich in der Botschaft, teilte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den Streitparteien unter Verweis auf seine Richtlinienkompetenz mit, wie er in der Causa AKW-Verlängerung zu entscheiden gedenke: Alle drei Atomkraftwerke sollten im Leistungsbetrieb, nicht nur als Reserve, über den 31. Dezember hinaus am Netz bleiben. Doch spätestens am 15. April sei Schluss, so die Quintessenz der am vergangenen Montag veröffentlichten Kanzler-Note. Neue Brennstäbe würden nicht angeschafft.

Machtwort beendet wochenlanges Gezerre über längere Laufzeiten

Das Schreiben traf den Berliner Politikbetrieb völlig unvorbereitet: Nicht nur der Inhalt überraschte, sondern auch, dass Scholz seine Entscheidung mit der ihm gemäß der Geschäftsordnung der Regierung zustehenden Richtlinienkompetenz als Kanzler begründet hatte. Ein durchaus ungewöhnlicher Vorgang (mehr dazu auf Seite 3). Doch ob dies nun ein Ausweis von Stärke oder Schwäche ist, wie politische Kommentatoren anschließend lebhaft diskutierten, so hat das Machtwort des Kanzlers zumindest den koalitionsinternen Streit offenbar fürs Erste befriedet.

Im Bundestag, der über die Atomgesetznovelle nun voraussichtlich in der zweiten Novemberwoche berät, wird ebenfalls mit einer Mehrheit gerechnet: Selbst die Grünen, denen der erzwungene Kompromiss deutlich heftiger aufstieß, werden wohl entsprechend der Empfehlung ihrer Fraktionsspitzen zustimmen. Ob es die Atomdebatte insgesamt beendet, ist jedoch fraglich.

Experten warnen vor zu früher Abschaltung

Experten warnen bereits, eine möglicherweise prekäre Gasversorgung im Winter 2023/24 könne den AKW-Einsatz länger erforderlich machen. Auch die Opposition scheint sich durch das Kanzler-Machtwort nicht bremsen lassen zu wollen. Eigentlich hatte das Parlament am Donnerstagvormittag über einen Gesetzentwurf der Unionsfraktion für AKW-Laufzeiten bis mindestens Ende 2024 abschließend debattieren wollen.


„Das Machtwort des Kanzlers ist für Deutschland nur ein Minischritt.“
Jens Spahn (CDU)

Als kein Regierungsentwurf vorlag und die Abstimmung über den der Union auf Antrag der Ampelfraktionen im federführenden Umweltausschusses vertagt sowie daraufhin von der Tagesordnung des Bundestags gestrichen wurde, entlud sich die Kritik der Opposition in einer von der AfD beantragten Aktuellen Stunde: Es brauche es einen Wiedereinstieg in die Atomkraft, verlangte Steffen Kotré (AfD). Alle laufenden AKW müssten unbefristet am Netz bleiben und abgeschaltete Meiler wieder reaktiviert werden. "Alles, was ohne Erdgas Strom produzieren kann, muss ans Netz", forderte auch Jens Spahn (CDU). Die Ampel solle keine Zeit mehr verlieren und endlich Brennelemente bestellen. Die Entscheidung reiche nicht. Das Machtwort des Kanzlers sei vielleicht für die Koalition ein "großer Schritt", für Deutschland aber nur ein "Mini-Schritt" auf dem Weg aus der Energiekrise.

Grüne werfen Befürwortern längerer Laufzeiten vor, Risiken auszublenden

Ein längeres Festhalten an der Atomkraft - für SPD, Grüne und Linke keine Option: Längere Laufzeiten bremsten den Ausbau erneuerbarer Energien aus, erklärte Nina Scheer (SPD). Verlässlich sei die Atomkraft auch nicht, betonte Bernhard Herrmann (Grüne) mit Blick auf Frankreich, wo gut die Hälfte der Reaktoren wegen Mängeln stillstehen. Das aber blende die AfD aus.

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Ralph Lenkert (Linke) zeigte sich genervt, überhaupt über den "Irrweg Atomkraft" debattieren zu müssen. Diese sei gefährlich und teuer. Lieber wolle er stattdessen über die Nutzung von Überschussstrom und Netzentgelte reden, meinte er und fand sich dabei in seltener Allianz mit Lukas Köhler (FDP) wieder, der es auch als sinnvoller befand, über das "Stromsystem der Zukunft" mit mehr Flexibilität in den Netzen und einem anderen "Stromdesign" nachzudenken.