"Schreib mal wieder" lautete einstmals eine Kampagne der Post. Ein Brief des Bundeskanzlers dürfte es nun ins Haus der Geschichte schaffen. Olaf Scholz (SPD) schreibt seinen Ministern Robert Habeck (Grüne) und Christian Lindner (FDP), wie es in Sachen Atomenergie in Deutschland weitergeht. In Zeiten von Kurznachrichten und E-Mail ist ein Brief etwas Besonderes. Formuliert darin ein Bundeskanzler seine Richtlinienkompetenz, wird es historisch. Auf diese Idee kam zuletzt Konrad Adenauer. Scholz' Brief verfehlte jedenfalls seine Wirkung nicht: Plötzlich herrschte Einigkeit.
Nach monatelangem Streit zwischen den beiden Empfängern scheint auf einen Schlag alles gut. Habeck und Lindner zeigten sich demonstrativ zufrieden mit dem, was sie da in den Händen hielten. Es ist ein Kompromiss ohne Zugeständnisse. Die Atomenergie bekommt in Deutschland eine Laufzeitverlängerung von dreieinhalb Monaten. Sie könne damit ihren Beitrag leisten, damit das Land so gut wie möglich durch den Winter kommt, zeigten sich die einen zufrieden. Es ändere sich nicht so viel, merkte die andere Seite an. Wieso konnte man sich hierauf nicht vorher einigen?
So wichtig Parteien für unsere Demokratie sind, so sehr erschweren die Vielfalt ihrer Grundeinstellungen und Werte die Mehrheitsfindung. Die Pluralität ist Gewinn und Herausforderung für eine Demokratie. Was für den einen eine reine Sachfrage, ist für den anderen ein ideologisch aufgeladener Glaubenssatz. Das gilt für viele Themen, für die Zuwanderung, die Schuldenbremse oder eben die Frage der Atomenergie. Für den einen ist schon die Frage, ob von Atomkraft oder Kernenergie gesprochen wird, ein wichtiger Aspekt in der Diskussion. Für den anderen ist Strom schlicht Energie, von der derzeit jede Kilowattstunde benötigt wird.
Unser Grundgesetz betont die Bedeutung der Parteien für die politische Willensbildung und stellt in diesen Tagen wieder einmal unter Beweis, wie vorausschauend es formuliert wurde. Einem verstaubt geglaubten Artikel kommt in einer pluraler gewordenen Demokratie plötzlich eine große Bedeutung zu: Die Richtlinienkompetenz als politischer Ausweg aus einer Krise. Ob dieser Ausweg tatsächlich trägt, entscheidet demnächst der Bundestag. Doch auch dort kennt das Grundgesetz Möglichkeiten, wenn alle Argumente für den Kompromiss alleine nicht überzeugen: die Vertrauensfrage.
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