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Foto: picture-alliance/dpa-Zentralbild/Jan Woitas
Auch 31 Jahre nach der Deutschen Einheit ist das Bild vom Osten im Westen noch immer von Klischees überlagert.

Deutsche Einheit : Ganz ohne Jammern

Die Journalistin Cerstin Gammelin präsentiert mit "Die Unterschätzten" ein exzellentes Buch über die Wiedervereinigung aus der Perspektive einer Ostdeutschen.

21.02.2022
2024-02-26T12:15:20.3600Z
4 Min

Immerhin hat es dreißig Jahre gedauert, bis dem interessierten Publikum ein exzellentes Buch über die Wiedervereinigung aus der Perspektive einer Ostdeutschen präsentiert wurde. Im Mittelpunkt von "Die Unterschätzten" der stellvertretenden Leiterin der Parlamentsredaktion der "Süddeutschen Zeitung", Cerstin Gammelin, stehen nicht die üblichen Wiedervereinigungs-Themen wie die friedliche Revolution oder die Eingliederung des Arbeiter- und Bauernstaates in die Bundesrepublik. Wer aber wissen will, wie der Osten tickt, was die Menschen dort bewegt und vor allem, was bei der Wiedervereinigung alles schiefgelaufen ist, wird bei Gammelin fündig. Sie errichtet einer ganzen Generation ehemaliger DDR-Bürger ein Denkmal. Diese Menschen haben nicht nur eine Diktatur gestürzt, sondern gerieten anschließend unverschuldet unter die Räder der Marktwirtschaft: Häufig verloren sie ihre Arbeit und ließen sich umschulen, um am Ende doch ihre Heimat verlassen zu müssen. Dabei haben sie nicht gejammert, sondern gelebt, geliebt und gearbeitet.

Unterschätzte Eliten

Gammelin erklärt, warum sich keine ostdeutsche Elite herausbildete und warum auch heute noch fast alle Universitäten im Osten von Westdeutschen geleitet werden. Obwohl diese ostdeutsche Generation entscheidend zur Wiedervereinigung und zur politischen Stabilität der Bundesrepublik beitrug, also "mehr als lesen und schreiben konnte", wurde sie von der politischen Klasse im Westen systematisch unterschätzt. Dass mit Angela Merkel eine von ihnen 16 Jahre lang sehr erfolgreich die gemeinsame Nation als Bundeskanzlerin regierte, blieb oft unerwähnt.

Zu Recht wundert sich Gammelin, wie es sich die Gesellschaft leisten konnte, "so viele Ressourcen zu verschwenden": Eine ganze Generation ausgebildeter Facharbeiter und Akademiker musste sich von Leuten anstellen lassen, deren Eignung darin bestand, aus den alten Ländern zu kommen und zu den richtigen Netzwerken zu gehören.

Als Verlierer abgestempelt

Später wurden die Ostdeutschen als Verlierer und Opfer abgestempelt, während sie im neuen System darum kämpften, ihren Platz zu finden. Und obwohl es nach der Einheit bald zu Massenarbeitslosigkeit kam, gaben die Ostdeutschen bei Bundestags- und Landtagswahlen demokratischen Parteien ihre Stimme. Gammelin bezeichnet die ostdeutschen Bundesländer als Laboratorium für die Politik und spricht von der Macht der Minderheiten: Da zwischen Ostsee und Erzgebirge keine der Volksparteien über eine parlamentarische Mehrheit verfüge, habe sich dort erstmals eine so genannte Kenia-Koalition gebildet - "eine Art Post-Wende-Runder Tisch". Weiter erklärt die Journalistin die Stärke der AfD im Osten; vergisst aber nicht zu erwähnen, dass die AfD in Westdeutschland gegründet wurde. Im Osten wäre man wahrscheinlich nicht auf die Idee gekommen, so eine Partei ins Leben zu rufen. 80 Prozent der Menschen im Osten würden nicht rechts "ticken", sondern demokratisch.

Kaum wahrgenommen werde auch, dass die mittel- und ostdeutschen Regionen Vorreiter im Ringen um Klimaneutralität sind. Allein in Sachsen-Anhalt gebe es 2.800 Windräder, dreieinhalb Mal so viele wie in Baden-Württemberg, in dem die Grünen regieren.

"Nur knapp ein Viertel aller Top-Jobs werden in Ostdeutschland von Einheimischen besetzt, obwohl sie 85 Prozent der Bevölkerung stellen."

Gammelin untermauert ihre Argumente mit öffentlich zugänglichen Statistiken. Der Leser erfährt nicht ohne Staunen, dass in den Bundesministerien die überwältige Mehrheit der Abteilungsleiter - stolze 133 - aus Westdeutschland kommen, aber nur vier aus den östlichen Landesteilen. Zudem werden alle Bundesbehörden im Osten von Westdeutschen geleitet. Mehr noch: Nur knapp ein Viertel aller Top-Jobs in den Medien, der Wissenschaft, in Verwaltung und in Justiz werden in Ostdeutschland von Einheimischen besetzt, obwohl sie 85 Prozent der Bevölkerung stellen. Von den Vorsitzenden Richtern stammt nicht einmal jeder Zehnte aus dem Osten. Nehmen Ostdeutsche an Behördentreffen teil, sprechen sie deshalb gerne von "Besatzerparty".

Beweisen unter Westdeutschen

Es gibt aber auch positive Entwicklungen: Inzwischen sind fast alle ostdeutschen Ministerpräsidenten auch dort geboren, einzige Ausnahme ist Bodo Ramelow in Thüringen. Dass umgekehrt eine Politikerin aus dem Osten ein westliches Bundesland regieren könnte, "klingt heute noch immer abwegiger, als ein Ticket zum Mars buchen zu wollen".

Bevor Cerstin Gammelin ihr herausragendes Buch über "Die Unterschätzten" verfasste, hatte sie bereits zwei gute Bücher über die Strippenzieher in der europäischen und deutschen Politik veröffentlicht.

Die im sächsischen Freiberg geborene Autorin mit Maschinenbau-Diplom musste sich unter westdeutschen Journalisten beweisen. Ihre Erfahrungen aus den Wendejahren, die mehrjährige Berichterstattung aus Brüssel und die Beobachtung der bundesdeutschen Politik in Berlin haben dazu beigetragen, dass ihre kenntnisreichen Analysen überzeugen und nicht als "Ossi-Patriotismus" abgetan werden können. Bei Gammelins aktueller Arbeit handelt es sich um eines der besten politischen Bücher der jüngsten Zeit.

Cerstin Gammelin:
Die Unterschätzen.
Wie der Osten die deutsche Politik bestimmt.
Econ Verlag,
Berlin 2021, 302 S., 22,99 €