Helfer graben bei Scheinwerferlicht nach verschütteten Menschen; strahlende Überlebende umarmen ihre Retter; Zeltstädte wachsen im Erdbebengebiet aus dem Boden: Ein Propagandavideo der türkischen Regierung stellt die Hilfe des Staates nach der Katastrophe vom Februar als Erfolgsgeschichte dar. "Wir werden die Spuren des Erdbebens in kurzer Zeit tilgen", sagte Präsident Recep Tayyip Erdogan, als er den Film vergangene Woche der Parlamentsfraktion seiner Regierungspartei AKP vorführte.
Nach dem schwersten Unglück in der Geschichte der Republik mit mehr als 45.000 Toten und hunderttausenden Obdachlosen verspricht Erdogan einen raschen Wiederaufbau. Eine Diskussion über Verfehlungen und Korruption seiner Regierung vor dem Beben will er nicht zulassen. Knapp zehn Wochen vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai deutet vieles darauf hin, dass Erdogan mit dieser Strategie Erfolg haben könnte - auch wenn im Erdbebengebiet die Fehler der Vergangenheit wiederholt werden.
Mindestens 200.000 Gebäude wurden bei den Erdstößen der Stärken 7,8 und 7,7 am 6. Februar zerstört oder so schwer beschädigt, dass sie unbewohnbar sind. Von der Provinz Hatay an der Mittelmeerküste im Westen bis ins kurdische Diyarbakir 400 Kilometer weiter im Osten reichen die Verwüstungen. Die UN-Entwicklungsorganisation UNDP schätzt, dass 200 Millionen Tonnen Schutt weggeräumt werden müssen - das wäre genug, um das Stadtgebiet von Barcelona mit einer ein Meter hohen Geröllschicht zu bedecken.
Millionen Menschen sind aus dem Katastrophengebiet geflohen oder hausen in Zelten oder Container-Lagern. Mancherorts sind Wasser und Strom knapp. Der türkische Rote Halbmond steht in der Kritik, weil er in den Tagen nach den Beben dringend benötigte Zelte an eine private Hilfsorganisation verkaufte, statt sie kostenlos an Bedürftige zu verteilen.
»Staatsfeindliche Provokation« Erdogan wischt all dies weg. Unmittelbar nach den Beben habe es Mängel bei der Hilfe gegeben, und dafür bitte er um Vergebung, sagt er. Jede Kritik, die darüber hinaus geht, geißelt er als staatsfeindliche Provokation in der Stunde der Not.
Zu den Themen, über die Erdogan nicht reden will, gehört die so genannte Bau-Amnestie von 2018. Damals konnten sich Bauherren gegen Zahlung einer Geldstrafe baufällige Gebäude legalisieren lassen. Zehntausende Gebäude im Erdbebengebiet seien damals vom Staat abgesegnet worden, sagt Pelin Pinar Giritlioglu, Professorin an der Universität Istanbul und Vorstandsmitglied der Berufskammer der Stadtplaner. Das Prinzip des Amnestie-Gesetzes beschreibt Giritlioglu im Gespräch mit dieser Zeitung so: "Ihr gebt mir Geld, und ich drücke dafür beide Augen zu und reiße eure Häuser nicht ab."
Hinzu kommt, dass es in der Türkei keine funktionierende Bauaufsicht gibt. Hausbesitzer ließen Stützpfeiler aus Gebäuden entfernen, um Platz für Supermärkte oder Tiefgaragen zu schaffen, ohne dass die Behörden einschritten. Warnungen von Experten wurden in den Wind geschlagen. So habe die Regierung den Flughafen von Hatay auf einer tektonischen Verwerfungslinie gebaut, sagt Giritlioglu. Beim Erdbeben wurde die Startbahn zerstört - der Flughafen fiel als Drehkreuz für die Lieferung von Hilfe aus dem In- und Ausland in den Tagen nach dem Beben aus.
Erdogans zentrales Argument lautet, dass kein Staat der Welt auf eine so schwere Katastrophe vorbereitet sein könne. Für schlecht gebaute Häuser macht er die Opposition verantwortlich: Diese habe viele Projekte zur Stadterneuerung per Gericht gestoppt. Erdogans Gegner sagen, diese liefen auf die Gentrifizierung gewachsener Stadtviertel zugunsten regierungsnaher Baukonzerne hinaus.
Die Bauindustrie ist wichtig für Erdogan. Er verdankt seine politischen Erfolge nicht zuletzt einem Bauboom, der Millionen Arbeitsplätze geschaffen hat. Jetzt will er aus dem Erdbebengebiet eine Großbaustelle machen; innerhalb eines Jahres sollen hunderttausende neue Wohnungen entstehen. Kritiker sehen Anzeichen dafür, das Aufträge wieder in erster Linie an regierungsnahe Unternehmer vergeben werden. Die ersten Aufträge seien hinter verschlossenen Türen vor allem an AKP-nahe Firmen vergeben worden, meldeten Oppositionszeitungen.
Die Wahlen im Mai fest im Blick, gibt Erdogan die Losung aus, nach der Katastrophe baue er für die Türkei ein "neues Leben" auf. Erste Umfragen nach den Erdbeben deuten zwar an, dass die AKP und ihre rechtsnationale Partnerin im Parlament, die MHP, an Zuspruch verloren haben. Doch ein Kollaps der Unterstützung für den Präsidenten und seine Regierung zeichnet sich nicht ab. Das liegt zum Teil an der starken Polarisierung der politischen Lager in der Türkei, meint Evren Balta, Politologin an der Özyegin-Universität in Istanbul. Auch die Erdbebenkatastrophe habe diese starren Fronten nicht aufgebrochen, schrieb sie in einem Beitrag für einen Blog des Journalisten Murat Yetkin.
Erdogan kann aber auch deshalb weiter auf seine Stammwählerschaft zählen, weil seine Gegner keine attraktiven Alternativen bieten. Ein Oppositionsbündnis aus sechs Parteien zerbrach jetzt an einem Streit um einen Präsidentschaftskandidaten. Das gibt dem Präsidenten die Chance, sich als Landesvater in Szene zu setzen, der die Türkei aus der Erdbeben-Zerstörung führen wird - während seine Gegner mit sich selbst beschäftigt sind.
Die Autorin ist freie
Korrespondentin in der Türkei.
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