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Weimarer Republik : Fatale Vollmacht für die Nazis

1933 gelang es der NSDAP, im Reichstag eine Mehrheit für ihr Ermächtigungsgesetz zu bekommen. Es markiert das Ende der ersten deutschen parlamentarischen Demokratie.

20.03.2023
2024-01-24T13:39:25.3600Z
6 Min

Der Vormittag begann mit einem elenden Spießrutenlaufen: Als die Reichstagsabgeordneten zu ihrer Sitzung am 23. März 1933 vor der Kroll-Oper eintrafen, mussten sie sich mühevoll durch eine enge Gasse zwängen. Denn rechts wie links hatte sich eine Horde von SA-Angehörigen in ihren paramilitärischen Uniformen bedrohlich aufgebaut. "Junge Burschen, das Hakenkreuz an der Brust, musterten uns frech, versperrten uns schier den Weg", so erinnerte sich der sozialdemokratische Parlamentarier Wilhelm Hoegner an die Situation.  "Sie riefen uns Schimpfworte zu wie 'Zentrumsschwein', 'Marxistensau'".

Im Innern des Gebäudes, das nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 ersatzweise als Versammlungsort diente, war die Bedrohungsszenerie nicht minder aggressiv. Überall lungerten die Braunhemden herum, ihre Hände auf die Pistolentaschen gelegt. Das geschah nicht nur auf den Gängen, sondern auch im Plenum. Sie stellten sich ungeniert neben Abgeordnete der bürgerlichen Parteien, vor allem der SPD. Einschüchterung und Psychoterror lautete die Devise. So wurde die "Sturmabteilung" der NSDAP, wie das Kürzel SA lautete, ihrer Ideologie gerecht, Angst und Schrecken zu verbreiten, einschließlich Verfolgung und Mord.

Foto: picture-alliance/akg-images

Adolf Hitler während seiner Regierungserklärung zum sogenannten Ermächtigungsgesetz vor dem Reichstag. Einzig die SPD unter ihrem Vorsitzenden Otto Wels stimmte dagegen.

Auf der Tagesordnung des Reichstages stand an diesem Tag die Debatte über das "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich". Hinter diesem Etikett verbarg sich, was gemeinhin als "Ermächtigungsgesetz" bezeichnet wird.

An der Stirnwand des Plenums prangte eine riesige Hakenkreuzfahne

Damit wollten die Nazis die Demokratie und den Parlamentarismus der Weimarer Republik endgültig außer Kraft setzen und eine "faschistische Diktatur" etablieren, wie der Historiker Hans Mommsen den Vorgang benannt hat. Ungewöhnlich das Ambiente dieses Aktes: An der Stirnwand des Plenums prangte eine riesige Hakenkreuzfahne, Hitler trat - immerhin als Reichskanzler mit einer quasi Regierungserklärung - im braunen Parteidress auf. Die Nazi-Abgeordneten grölten ununterbrochen bei den Reden bürgerlicher Parlamentarier. Die ganze Szenerie: ein pausenloser, doch bewusster Regelverstoß.

Doch für seine Rechnung einer Zweidrittelmehrheit brauchte Hitler, neben seinem Koalitionspartner, dem nationalistischen Verleger Alfred Hugenberg und dessen Deutschnationaler Volkspartei, auch Stimmen vom katholischen Zentrum wie aus dem liberalen Lager. Und damit begann das ganze Elend beim Zerfall der Weimarer Republik.

Auch die fünf liberalen Parlamentarier entschlossen sich zu einem Ja

Das Zentrum hatte in den Zwanzigerjahren mehrfach die Kabinettsführung unter den zwanzig Regierungen der vierzehnjährigen Republik. Doch nunmehr stand mit dem Prälaten Ludwig Kaas eine eher rückwärts gerichtete Persönlichkeit an der Spitze mit konservativ-ständischen Einstellungen, die sich kaum mit demokratischer Haltung verbanden. "Die gegenwärtige Stunde kann für uns nicht im Zeichen der Worte stehen, ihr einziges, ihr beherrschendes Gesetz ist das der raschen, aufbauenden und rettenden Tat. Und diese Tat kann nur geboren werden in der Sammlung", sagte er in der entscheidenden Debatte.

Deshalb reichen "wir von der deutschen Zentrumspartei in dieser Stunde allen, auch früheren Gegnern, die Hand, um die Fortführung des nationalen Aufbauwerks zu sichern". Mit derart beschwörenden Formulierungen brachte er seine Leute, trotz einiger Widerstände, zur Unterstützung für das Ermächtigungsgesetz. Auch die fünf liberalen Parlamentarier entschlossen sich zu einem Ja, wiederholt beschrieben von einem Beteiligten, nämlich Theodor Heuss. Obwohl eigentlich dagegen, ließ er sich in die Fraktionsdisziplin nehmen, eine fatale Entscheidung, die dem späteren Bundespräsidenten oft vorgehalten wurde.


„Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“
Otto Wels, damaliger Vorsitzender der Sozialdemokraten

Anders die Sozialdemokraten. Ihr Vorsitzender Otto Wels begründete das kategorische Nein der anwesenden 94 SPD-Abgeordneten. Die anderen aus der 120-köpfigen Fraktion waren geflohen, untergetaucht oder bereits in "Schutzhaft" genommen, wie etwa Julius Leber, schon auf dem Weg zur Kroll-Oper.

Wels in seiner Begründung: "Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten. Sie selbst haben sich ja zum Sozialismus bekannt. Das Sozialistengesetz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch aus neuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen", urteilte er. Und dann fiel der Satz, den die SPD bis heute mit Stolz betont: "Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht."

Die Verfassung ist nur ein Text mit Geltungsanspruch

Was brachte die Weimarer Republik zu einer solchen erschütternden Selbstaufgabe und ihrem schmählichen Scheitern? War es die Verfassung, die mit ihren Notstands- und Ermächtigungsartikeln Einfallstore für autoritäre Transformationen lieferte? Oder lag es an den handelnden Personen, die aus Ehrgeiz und Hochmut, vielleicht auch Naivität, den Zusammenbruch bewirkten?

Der frühere Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm hat einmal formuliert, dass die Konstitution nur ein Text mit Geltungsanspruch sei. Doch die Aufforderung "muss von den Akteuren, an die sie sich wendet, eingelöst werden. Sie müssen das politische System nach den Vorgaben der Verfassung einrichten. Sie müssen die Verfassungsnormen als für ihr Handeln relevant betrachten."

Die Erzählung von der bösartige Kamarilla

Vielfach hielt sich länger sich das Narrativ, die Weimarer Demokratie sei durch eine bösartige Kamarilla gekappt worden, bestehend aus dem greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, seinem Sohn und Assistenten Oskar von Hindenburg, dem flinken, aber unzuverlässigen Franz von Papen, den der Reichspräsident selbst für einen forschen Kerl hielt, sowie dem stets undurchsichtigen, aber intriganten Otto Meissner, Staatssekretär in der Präsidialkanzlei und dort "graue Eminenz". Diese Clique habe dem greisen Generalfeldmarschall gleichsam Hitler als Kanzler untergeschoben.

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Hindenburg aber war und blieb Herr seiner Entscheidungen. Doch er erwies sich als Akteur von gestern. Des Regierens mit Notverordnungen leid, fürchtete er, eines Tages wegen Verfassungsbruchs angeklagt zu werden. Zudem verachtete er die Sozialdemokraten, lange die stärkste Partei im Reichstag. Also versuchte er, sie stets von der Regierung fernzuhalten. Dagegen sympathisierte er mit den alten Eliten, dem preußischen Adel, dem er selbst entstammte und für dessen Einflüsterungen er stets ein Ohr hatte.

Die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten 1925 ist die eigentliche Zäsur

Die erste Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten 1925 ist als die eigentliche Zäsur des demokratischen Systems zu betrachten. Es ist das Todesjahr von Friedrich Ebert, der von der Nationalversammlung in Weimar 1919 in das höchste Staatsamt gewählt wurde. Auch der Sozialdemokrat scheute sich nicht, von seinen Prärogativen Gebrauch zu machen. In seiner sechsjährigen Amtszeit setzte er insgesamt 130 Mal das Notverordnungsrecht ein, zudem kamen sechs kurzfristige Ermächtigungsgesetze zustande. Doch Ebert, über den Teile des Bürgertums und der Oberschicht wegen seines früheren Berufes als Sattlergeselle die Nase rümpften, verstand sich als "Hüter der Verfassung". Er nutze seine Möglichkeiten zum Schutz der Republik und zur Rettung der Demokratie.

Daran lag den Nazis nichts. Mit ihrem Ermächtigungsgesetz wollten sie den Reichstag ausschalten und der Demokratie den Garaus machen. Hitler gab es offen zu. Zu viel Parlamentarismus und Diskussion würden den Fortschritt behindern. Eine "souveräne" Regierung, so argumentierte er, könne sich nicht "für ihre Maßnahmen von Fall zu Fall die Genehmigung des Reichstages erhandeln und erbitten". Im Volk entstünden so "Zweifel an der Stabilität des neuen Regiments".

Der Reichstagsbrand war für Propagandachef Goebbels ein "Gottesgeschenk"

Das Ermächtigungsgesetz war nur einer der Schritte, mit dem die Nazis die Weimarer Republik schrittweise aushebelten. Im Frühjahr 1933 erließen sie ein ganzes Konvolut von Verordnungen und Maßnahmen: Es begann nach dem Reichstagsbrand, ein "Gottesgeschenk", wie Propagandachef Joseph Goebbels es nannte, mit der "Verordnung zum Schutz von Volk und Staat", die Grundrechte wie Presse- und Meinungsfreiheit sowie Versammlungsfreiheit einschränkte; es folgte die Aufhebung der Reichstagsmandate der KPD, deren Parteiverbot, der Boykott gegen jüdische Geschäfte, Ärzte und Anwälte sowie das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums", das Oppositionelle und Juden aus dem öffentlichen Dienst ausschloss.

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Am 2. Mai wurden die freien Gewerkschaften verboten; wenige Tage später auf dem Berliner Opernplatz und andernorts Bücher verbrannt, deren Autoren die Nazis als "wider den undeutschen Geist" diffamierten. Im Sommer schließlich folgte das "Gesetz gegen die Neubildung von Parteien", das nur noch die NSDAP zuließ, nachdem sich zuvor die meisten Parteien wie SPD, die liberale Deutsche Staatspartei, DVP, Zentrum und Bayerische Volkspartei bereits selbst aufgelöst hatten.

Im Fluss der Ereignisse lassen sich viele Entwicklungen in der Politik häufig schlecht überblicken. Erst Historiker schaffen diese Aufgabe. So schreibt Heinrich August Winkler: "Als am 5. März 1933 ein neuer Reichstag gewählt wurde, war Deutschland kein Rechtsstaat mehr." Aber der Schein der Legalität habe den "Schein der Legitimität" gefördert und dem Regime die "Loyalität der Mehrheit" gesichert. Hitler habe fortan die Ausschaltung des Reichstages als "Erfüllung eines Auftrages" erscheinen lassen, "der ihm vom Reichstag selbst erteilt" worden sei. Ohnehin hatten die Nazis untereinander verabredet, dass der 5. März ein für allemal der letzte Wahltag zu sein habe. Und sich getreulich daran gehalten.