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Der SPD-Politiker Otto Wels auf einer Kundgebung im Berliner Lustgarten 1932. Die SPD stimmte 1933 gegen das fatale Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten.

Ermächtigungsgesetz der Nazis : Als der Reichstag sich faktisch selbst abschaffte

Die Sozialdemokraten lehnten das Ermächtigungsgesetz der Nazis ab. Eine Mehrheit fand sich trotzdem in der dunkelsten Stunde deutscher Parlamentsgeschichte.

20.03.2023
2024-01-24T14:09:44.3600Z
6 Min

Unterdrückung und Verfolgung Andersdenkender bestimmten knapp zwei Monate nach der NS-"Machtergreifung" bereits das Geschehen in Deutschland. Einschüchterung und Bedrohung prägten auch die Reichstagssitzung, zu der sich die Abgeordneten an diesem 23. März 1933, einem Donnerstag, um 14 Uhr in der Kroll-Oper gegenüber des beim Reichstagsbrand beschädigten Parlamentsgebäudes versammelten. Die meisten Abgeordneten wohlgemerkt, denn die 81 Mandate der KPD waren nach der Neuwahl vom 5. März annulliert worden und ihre Abgeordneten inhaftiert oder untergetaucht beziehungsweise geflohen, ebenso wie 26 Parlamentarier der SPD.


„Der SPD-Fraktion waren die drohenden Konsequenzen ihrer Ablehnung sehr bewusst.“

Für die Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz mussten aber zwei Drittel der Parlamentsmitglieder anwesend sein, was ohne Sozialdemokraten und Kommunisten nicht gewährleistet schien. Daher sah Tagesordnungspunkt Eins eine Änderung der Geschäftsordnung vor, mit der alle "unentschuldigt" fehlenden Abgeordneten - inklusive der vertriebenen oder in "Schutzhaft" genommenen - als anwesend gezählt wurden. Dieser Antrag der Regierung wurde mit "überwältigender Mehrheit" angenommen, abgelehnt dagegen ein Antrag der SPD-Fraktion, ihre inhaftierten Mitglieder freizulassen.

Der Reichstag sollte für die Nazis nur noch Staffage sein

Zweiter Tagesordnungspunkt war eine Regierungserklärung des neuen Reichskanzlers Adolf Hitler (NSDAP) in Verbindung mit dem Entwurf des Gesetzes "zur Behebung der Not von Volk und Reich". Es sollte die Regierung ermächtigen, ohne Zustimmung des Reichstags und Gegenzeichnung durch den Reichspräsidenten Gesetze zu erlassen und das Parlament somit als Gesetzgeber obsolet zu machen.

Erst gegen Ende seiner Rede kam Hitler darauf zu sprechen: Es widerspräche "dem Sinn der nationalen Erhebung", wenn die Regierung "sich für ihre Maßnahmen von Fall zu Fall die Genehmigung des Reichstags erhandeln" wollte, begründete er die Vorlage. Dass das Parlament nur noch Staffage sein sollte, ließ sein nächster Satz erkennen: Die Regierung, so Hitler, werde "dabei nicht von der Absicht getrieben, den Reichstag als solchen aufzuheben", sondern behalte sich vor, "ihn von Zeit zu Zeit über ihre Maßnahmen zu unterrichten oder aus bestimmten Gründen, wenn zweckmäßig, auch seine Zustimmung einzuholen".

Für die Verabschiedung des Gesetzes war eine Zweidrittelmehrheit erforderlich

Hitler schloss mit einer unverhohlenen Drohung: Obgleich die Koalition von NSDAP und Deutschnationaler Volkspartei (DNVP) über eine klare Mehrheit im Reichstag verfüge, bestehe seine Regierung auf dem Gesetz und sei entschlossen, eine "Bekundung der Ablehnung und damit die Ansage des Widerstands entgegenzunehmen", sagte er: "Mögen Sie, meine Herren, nunmehr selbst die Entscheidung treffen über Frieden oder Krieg".

Die folgende Sitzungsunterbrechung nutzten die Fraktionen zu internen Beratungen. Während sich die SPD bereits auf ein "Nein" zum Ermächtigungsgesetz festgelegt hatte, waren andere Fraktionen noch unentschieden. Für die zur Verabschiedung des Gesetzes erforderliche Zweidrittelmehrheit reichte die absolute Mehrheit von Hitlers Koalition aus NSDAP mit 288 Sitzen und der DNVP mit 52 von insgesamt 647 (beziehungsweise abzüglich der 81 annullierten KPD-Mandate insgesamt 566) Sitzen nicht aus, er brauchte vor allem das katholische Zentrum mit seinen 73 Abgeordneten.

Auch Zentrum und Liberale stimmten schließlich für das Gesetz

Unter ihnen war die Positionierung heftig umstritten, doch konnten sich die Gegner einer Zustimmung nicht gegen die dem Parteivorsitzenden Ludwig Kaas folgende Mehrheit durchsetzen und beugten sich der Fraktionsdisziplin. Ähnlich war es bei den fünf Abgeordneten der liberalen Deutschen Staatspartei, unter denen etwa der spätere Bundespräsident Theodor Heuss ursprünglich gegen eine Zustimmung war, und die dann wie das Zentrum und die 19 Parlamentarier der Bayerischen Volkspartei (BVP) geschlossen für das Ermächtigungsgesetz stimmten.


„Mit Ausnahme der Sozialdemokraten votierte das Parlament geschlossen für das Gesetz.“

Um 18.16 Uhr eröffnete Reichstagspräsident Hermann Göring (NSDAP) die Sitzung wieder; als erster ergriff der SPD-Vorsitzende Otto Wels das Wort. Die Reichstagswahlen vom 5. März hätten den Regierungsparteien die Mehrheit gebracht und damit ermöglicht, "streng nach Wortlaut und Sinn der Verfassung zu regieren", konstatierte Wels und mahnte: "Wo diese Möglichkeit besteht, besteht auch die Pflicht."

Hitler reagiert höhnisch und aggressiv auf die SPD

Zugleich betonte der SPD-Vorsitzende, dass nach den Verfolgungen seiner Partei in der letzten Zeit niemand von ihr erwarten könne, für dieses Gesetz zu stimmen. Der drohenden Konsequenzen war sich seine Fraktion dabei sehr bewusst, wie Wels in dem historisch gewordenen Satz deutlich machte: "Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht."

Hitlers Replik war so höhnisch wie aggressiv. "Sie sind wehleidig, meine Herren, und nicht für die heutige Zeit bestimmt, wenn Sie jetzt schon von Verfolgungen sprechen", entgegnete er den verbliebenen Sozialdemokraten. Nun, setzte er an die Adresse der SPD-Fraktion hinzu, habe "Ihre Stunde geschlagen". Dabei wolle er gar nicht, dass die SPD für das Gesetz stimme: Deutschland solle "frei werden", endete Hitler, "aber ohne Sie!"

Mehrere Parteien stellten ihre Bedenken zurück

Dem Rededuell folgten Erklärungen der übrigen Fraktionen. Die Zentrumspartei, begründete Kaas deren Zustimmung, setze sich "aus nationalem Verantwortungsgefühl über alle parteipolitischen und sonstigen Bedenken hinweg". Für die BVP äußerte Hans Ritter von Lex die Hoffnung, dass "die Handhabung des Ermächtigungsgesetzes sich in den Schranken des christlichen Sittengesetzes hält".

Wie er äußerte auch der spätere Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Reinhold Maier, für die Deutsche Staatspartei Kritik an der Vorlage, bevor er ankündigte, dass seine Fraktion ihre "ernsten Bedenken zurückstellen und dem Ermächtigungsgesetz zustimmen" werde. Keine Einwände gegen das Gesetz erhob dagegen der Vorsitzende des Christlich-Sozialen Volksdienstes, Wilhelm Simpfendörfer.

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Letzter Redner war Göring, als kommissarischer Innenminister Preußens ein Hauptverantwortlicher für die NS-Verfolgung, bevor er wieder als Reichstagspräsident die Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz leitete. Sie erfolgte namentlich und ergab eine geschlossene Zustimmung des Reichstags mit Ausnahme der SPD-Fraktion, deren 94 Nein-Stimmen 444 Ja-Stimmen gegenüberstanden. Damit war die Zweidrittelmehrheit auch dann erreicht, wenn man die 81 nicht anwesenden KPD-Abgeordneten mitzählt. Das oberste deutsche Parlament hatte sich faktisch selbst abgeschafft und den Weg in die Diktatur freigemacht.