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Russisch-Ukrainischer Krieg : Zurück in die bipolare Welt des Kalten Krieges

Serhii Plokhy prognostiziert in "Der Angriff" das Scheitern Putins und den Beginn einer neuen Weltordnung.

15.05.2023
2024-02-28T14:21:47.3600Z
4 Min

Der renommierte ukrainisch-amerikanische Historiker Serhii Plokhy ordnet den russisch-ukrainischen Krieg in seinem neuen Buch "Der Angriff" in die lange Historie nationaler Befreiungskriege ein. Die Konstante all dieser Kriege sei gewesen, dass sie stets den Abstieg und den Zerfall von Imperien begleitet hätten: "Wir wissen, wie diese Kriege endeten - mit der politischen Souveränität ehemaliger Kolonien", betont der Harvard-Professor. Dies darf getrost als Prophezeiung über den Ausgang des blutigen Konflikts gelesen werden.

Die russische Invasion habe den Glauben endgültig zerstört, Ukrainer und Russen seien "verbrüderte Völker oder gar ein und dasselbe Volk". Russlands Präsident Wladimir Putin hatte dieses Narrativ verbreitet. Da das ursprüngliche Kriegsziel Putins, die vollständige Kontrolle über die Ukraine zu erringen, gescheitert sei, ginge es ihm nun darum, Russlands Grenzen möglichst weit nach Westen zu verschieben.

Analyse der deutschen Russland-Politik in der Ära Merkel

In seinem empfehlenswerten Buch beschreibt Plokhy die Vorgeschichte des Krieges, seinen Verlauf seit Februar 2022, den Exodus von über zehn Millionen Flüchtlingen, die Verteidigung Kiews und des Donbass und die ukrainischen Gegenoffensiven. Russlands Krieg gegen die Ukraine habe die USA zurück nach Europa geholt, Washington habe erneut die Führung "im Freiheitskampf gegen einen alten Feind" übernommen. Der "Westen als Ganzes" unterstütze Kiew militärisch und finanziell, zeige sich solidarisch bei der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen und verhänge Sanktionen gegen Russland. All dies deute auf "eine Wiederbelebung der Allianz aus der Ära des Kalten Krieges hin", analysiert Plokhy. Die Biden-Regierung sei entschlossen, "Russland als Gefahr für den Frieden nicht nur in der Ukraine, sondern in aller Welt auszuschalten, seine Niederlage im gegenwärtigen Krieg sicherzustellen und es so zu schwächen, dass es möglichst keine weiteren Kriege mehr führen" könne. Der Historiker zitiert Verteidigungsminister Lloyd Austin, der zwei Monate nach dem Angriff in Kiew erklärt hatte: "Wir glauben, dass wir siegen können". Austin versprach, "weiterhin Himmel und Erde in Bewegung zu setzen und der Ukraine bei der Verteidigung ihrer Unabhängigkeit zu helfen". Die Anzahl der Staaten, die Kiew Waffen liefern, zähle mehr als 50 Mitglieder. Nicht nur der Widerstandswille der Ukraine, sondern auch die "einheitliche Reaktion des Westens" habe Putin überrascht.

Ausführlich analysiert Plokhy die deutsche Russland-Politik unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD): "Russlands Einmarsch war ein schwerer Schlag" für die auf wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Moskau ausgerichtete Politik Berlins. Merkel habe das Minsker Abkommen im Februar 2015 ausgehandelt und eine "wichtige Rolle bei der Verhängung und Aufrechterhaltung" von Sanktionen gegen Moskau nach Putins Annexion der Krim gespielt. Merkels Russland-Politik sei vor dem Februar 2022 noch als "klug" bewertet, nach dem Angriffskrieg hingegen "als Beschwichtigung eines Aggressors" kritisiert worden.

Kritisch sieht Plokhy den Besuch von Bundeskanzler Scholz bei Putin: Ziel sei es gewesen, den Kreml-Herrscher von seinen Kriegsplänen abzubringen, "indem er ihm versicherte, die Ukraine werde in den nächsten 30 Jahren garantiert nicht in die Nato aufgenommen". Plokhy betont: Scholz wollte sich "zuallererst als Friedensstifter" darstellen, "als potenzieller Vermittler bei künftigen Friedensgesprächen statt als kompromissloser Unterstützer der Ukraine".

Deutsche Schuldgefühle

Gleichwohl hätten die USA und der ukrainische Präsident Selenskyj den Druck auf Berlin aufrechterhalten, um deutsche Waffenlieferungen zu ermöglichen. Der Historiker vermutet historische, psychologische und wirtschaftliche Gründe für die "Hinhaltetaktik" und das "Lavieren" des Kanzlers: "Seit dem Zweiten Weltkrieg hegten die Deutschen Schuldgefühle wegen ihrer Kriegsverbrechen an den 'Russen', obwohl Hitlers Krieg im Osten in erster Linie gegen Ukrainer und Belarussen auf deren Gebiet geführt worden war." Berlin habe nicht noch einmal etwas tun wollen, was "als Aggression gegen Russland" ausgelegt werden kann. Zugleich hätten auch die Gaslieferungen aus Russland, die 55 Prozent des deutschen Bedarfs deckten, eine wichtige Rolle gespielt.

Nach Plokhys Einschätzung wird "Putins Krieg" nicht als regionaler Konflikt in die Geschichte eingehen, sondern als Beginn einer neuen Weltordnung. Unter enorm hohen Kosten und mit einem gewaltigen Blutzoll werde die Ukraine nicht nur die Ära der russischen Dominanz in Osteuropa beenden, prognostiziert der Historiker. Putins Aggression habe sein Streben nach einer "multipolaren Weltordnung" zurück in die bipolare Welt des Kalten Krieges katapultiert. Dem vereinten Westen unter Führung der USA, verstärkt durch die osteuropäischen Nato-Partner, stehe zukünftig China gegenüber. Moskau werde auf die Stufe eines armen, unberechenbaren chinesischen Bündnispartners zurückfallen, während die Ukraine Deutschlands frühere Rolle im neuen Kalten Krieg übernehme.

Serhii Plokhy:
Der Angriff.
Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt.
Hoffmann und Campe,
Hamburg 2023;
496 Seiten, 26,00 €