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Geschichte Taiwans : Dreiecksbeziehung um den Status der Republik China

Mehrere Militärmanöver haben die Spannungen in der Straße von Taiwan erhöht. Die historischen Hintergründe des Konflikts mit China reichen 80 Jahre zurück.

15.05.2023
2024-04-15T11:40:05.7200Z
7 Min

Noch vor wenigen Jahren war undenkbar, was heute Alltag ist: Schiffe und Flugzeuge von Marine und Luftwaffe der chinesischen Volksbefreiungsarmee überqueren im direkten Anflug auf Taiwan die Medianlinie in der Mitte der rund 180 Kilometer breiten Wasserstraße, die die Insel vom asiatischen Festland trennt. Kurz danach drehen sie scharf ab und fliegen zurück.

Mit umfangreichen Manövern probten die chinesischen Streitkräfte zuletzt anscheinend auch die Blockade Taiwans. Derweil weitet die Regierung in Taipeh die Dauer des Wehrdienstes aus und beschließt umfangreiche Waffenkäufe in den USA. Die USA verstärken ihrerseits die militärischen Beziehungen zu Verbündeten wie Japan und den Philippinen.

Foto: picture-alliance/dpa/UPI

1948 wurde General Tschiang Kai-schek (re.) zum ersten verfassungsmäßigen Präsidenten Chinas gewählt. 1949 flüchtete er auf die Insel Taiwan, wo er seither beanspruchte, ganz China zu vertreten.

Das Säbelrasseln wird lauter. Dabei wären die Konsequenzen eines Krieges um Taiwan aller Voraussicht nach katastrophal - für die Menschen vor Ort und weltweit. Mehrfach hat US-Präsident Joe Biden betont, die USA würden Taiwan in einem solchen Fall zu Hilfe kommen. Und weil taiwanische Unternehmen in der Halbleiter-Industrie eine führende Rolle spielen, wäre die gesamte Weltwirtschaft betroffen.

Wurzeln des Konflikts reichen 80 Jahre zurück

Doch worum geht es eigentlich in diesem Konflikt, dessen Wurzeln nunmehr 80 Jahre zurückreichen? Wichtige Rollen spielen dabei drei politische Parteien: Erstens die Kommunistische Partei Chinas (KPCh), deren Führer Mao Tse-Tung im Jahr 1949 nach dem Sieg im chinesischen Bürgerkrieg die Volksrepublik China als Nachfolgestaat der Republik China ausrief. Zweitens deren Gegner, die Kuomintang (KMT), die unter ihrem Anführer Chiang Kai-Shek den Krieg verloren.

In den letzten Kriegsmonaten zog sich die KMT-Führung nach Taiwan zurück, das dadurch zum letzten Rest der Republik China wurde. Und drittens die 1986 in Taiwan gegründete Demokratische Fortschrittspartei (DPP), die mit der Republik China nur wenig anfangen kann und aktuell die Regierung stellt. "Diese drei Parteien haben gewissermaßen eine Dreiecksbeziehung, die sich um den Status der Republik China dreht", sagt der Politikwissenschaftler Su Ching-Hsuan von der National Pingtung University in Taiwan.

Den Anspruch auf Taiwan hat die Kommunistische Partei Chinas nie aufgegeben

Als Mao Tse-Tung, der Führer der KPCh, am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik China ausrief, hatten die kommunistischen Truppen in einem mehrere Jahrzehnte andauernden Bürgerkrieg nach und nach fast ganz China erobert. Nur auf Taiwan und einigen kleineren Inseln konnten sich die Truppen von Maos Widersacher Chiang Kai-Shek von der nationalchinesischen Partei KMT halten.

Auch wenn Maos Plan einer Invasion Taiwans scheiterte, den Anspruch auf Taiwan gab die KPCh offiziell nie auf - bis heute. Taiwan sei, so heißt es im Bericht "The Taiwan Question and China's Reunification in the New Era", der im vergangenen August vom chinesischen Büro für Taiwan-Angelegenheiten veröffentlicht wurde, "Teil des heiligen Territoriums" der Volksrepublik China.

Die chinesische Regierung versucht immer öfter, Taiwan international zu isolieren

Zur Begründung führt die KPCh ideologische Argumente an. Die Trennung zwischen China und Taiwan stelle eine "Narbe" dar, an deren "Heilung" die Chinesen "auf beiden Seiten" der Taiwan-Straße arbeiten sollten. Die Vereinigung mit Taiwan sei zudem Voraussetzung für die "nationale Wiederverjüngung". Zuletzt hat die Partei die Rhetorik noch verschärft.

"Dokumentenanalysen zeigen, dass die Vereinigung mit Taiwan häufiger als Ziel benannt wird. Zugleich wird seltener betont, dass dies friedlich stattfinden müsse", sagt Katja Drinhausen, China-Expertin beim Think Tank Merics. "Außerdem versucht die chinesische Regierung immer öfter, Taiwan international zu isolieren.

Sie setzt zum Beispiel Nichtregierungsorganisationen und Forschende unter Druck, den Namen Taiwan mit einem Zusatz 'Provinz Chinas' zu versehen." Die Vereinigung mit Taiwan, so betonte der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping zuletzt mehrfach, dürfe nicht auf künftige Generationen verschoben werden.


„In der Schule haben wir alles über die Geografie und Geschichte Chinas gelernt, aber nichts über Taiwan.“
Fan Yun, Abgeordnete im taiwanesischen Parlament

Daneben sieht Drinhausen noch einen weiteren Punkt, warum Taiwan für die KPCh eine so große Bedeutung hat: Die demokratisch gewählte Regierung in Taipeh stelle allein durch ihre Existenz die Legitimation der KPCh in Frage. "Die KPCh behauptet, nur sie könne Chinesinnen und Chinesen führen. Aber Taiwan zeigt, dass Menschen, die dem chinesischen Kulturkreis angehören, auch mit einem anderen politischen System gut leben können. Das soll keine Schule machen."

Der wichtigste Gegner der KPCh in der Taiwanfrage war jahrzehntelang die KMT. "Obwohl sie im Bürgerkrieg Widersacher waren, einte sie die Idee, dass es nur ein China gebe und Taiwan Teil davon sei", erklärt Drinhausen. Auch Chiang Kai-Shek sah sich deshalb als Führer Chinas. Bis 1971 vertrat die Regierung in Taipeh ganz China bei den Vereinten Nationen.

Während der japanischen Kolonialherrschaft mussten die Einwohner Japanisch sprechen

Die Bevölkerung Taiwan selbst musste die KMT-Führung, die mit bis zu zwei Millionen Anhängern auf die Insel geflohen war, allerdings erst einmal zu Chinesen machen. Während der 50-jährigen japanischen Kolonialherrschaft zwischen 1895 und 1945 mussten die Einwohner Japanisch sprechen und japanische Namen annehmen. Nun wurden die chinesische Sprache und Namen Pflicht. Auch im Bildungsbereich setzte die KMT auf Sinisierung. "In der Schule haben wir alles über die Geografie und Geschichte Chinas gelernt, aber nichts über Taiwan", erinnert sich die Parlamentarierin Fan Yun von der DPP.

Die KMT konnte sich nur mit Gewalt an der Macht halten. Schon im Jahr 1947 brachen in den größten Städten des Landes Aufstände aus, die sich gegen Korruption und Vetternwirtschaft richteten. Die KMT ließ sie brutal niederschlagen, mindestens 10.000 Menschen starben dabei. Anschließend rief die Regierung das Kriegsrecht aus. Tatsächliche oder auch nur vermeintliche Opposition war verboten und wurde mit dem Tod und langen Haftstrafen geahndet.

Im Jahr 1992 konnten die Taiwaner zum ersten Mal ein freies Parlament wählen

Dennoch wagten Vertreter der Demokratiebewegung 1986 die Gründung der DPP. Überraschend setzte sich die KMT bald darauf selbst für demokratische Reformen ein. Den Anspruch, ganz China zu vertreten, gab sie auf. Im Jahr 1992 konnten die Taiwaner zum ersten Mal ein freies Parlament wählen. Auf Anhieb erreichte die DPP rund ein Viertel der Stimmen, acht Jahre später wählten die Taiwaner den DDP-Kandidaten zum Präsidenten. Heute gilt Taiwan als gefestigte Demokratie, in der die Macht zwischen beiden großen Parteien wechselt.

Dieser politische Wandel berührte auch das Verhältnis zum Festland. Von Anfang an lag der politische Fokus der DPP stets auf Taiwan, was die chinesische Führung sichtlich nervös macht. "Separatismus", droht sie im Bericht zur Taiwanfrage, "wird Taiwan in den Abgrund reißen und nichts als Unheil über die Insel bringen".

Mittlerweile geben rund 61 Prozent der Menschen an, sich als Taiwaner zu identifizieren

Doch in der taiwanischen Bevölkerung haben sich die Identitäten in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt. Bezeichneten sich in der jährlich erhobenen Umfrage der National Chengchi University in Taipeh im Jahr 1992 noch 25,5 Prozent der Menschen in Taiwan als Chinesen und 17,6 Prozent als Taiwaner (46,4 Prozent als beides), ergeben die Zahlen heute ein anderes Bild: Mittlerweile geben 60,8 Prozent der Menschen an, sich als Taiwaner zu identifizieren, und nur noch 2,7 Prozent bezeichnen sich als Chinesen.

Damit verliert ein Argument der KPCh zunehmend an Überzeugungskraft. Jahrzehntelang hatte sie versucht, Taiwan unter dem Motto "Ein Land, zwei Systeme" mit dem Versprechen weitreichender Autonomie ins Reich der Mitte zu locken. Das fällt indes kaum auf fruchtbaren Boden, wenn sich die Menschen gar nicht als Chinesen sehen. Dazu kommt der Umgang mit der Demokratiebewegung in Hongkong. Auch der einstigen britischen Kolonie war das Konzept von "einem Land, zwei Systemen" zugesagt worden. "Die Niederschlagung der Demokratiebewegung in Hongkong hat gezeigt, dass die Idee von 'einem Land, zwei Systemen' in der Praxis nicht funktioniert. Dementsprechend gering ist die Zustimmung dafür in Taiwan", sagt Katja Drinhausen.

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KPCh und KMT lehnten eine formelle Unabhängigkeit Taiwans ab, erklärt Politikwissenschaftler Su Ching-Hsuan. KPCh und DPP könnten mit der Republik China nur wenig anfangen. Und DPP und KMT hätten kein Interesse, der Volksrepublik beizutreten. Für den Umgang mit dieser verfahrenen Situation äußert die Bevölkerung Taiwans eine klare Präferenz: Nur 1,2 Prozent der Taiwaner sprechen sich nach einer zweiten Umfrage der National Chengchi University für eine schnelle Vereinigung von China und Taiwan aus. Ebenso tritt nur eine kleine Minderheit, 4,6 Prozent, für eine rasche Unabhängigkeitserklärung ein. Die große Mehrheit, 88,6 Prozent der Bevölkerung, will den Status quo zumindest für die absehbare Zeit beibehalten.

Die Frage ist nur, ob auch Xi Jinping und die Führung der KPCh sich darauf einlassen können oder wollen.