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Suizidprävention : "Ich bin froh, dass beide Entwürfe vom Tisch sind"

Die Vorstandsvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention, Ute Lewitzka, fordert ein Gesetz zur Suizidprävention.

10.07.2023
2024-03-14T14:49:49.3600Z
6 Min

Frau Lewitzka, der Bundestag hat sich nicht auf eine Reform der Sterbehilfe verständigen können. Sind Sie erleichtert?

Ute Lewitzka: Ich bin tatsächlich erleichtert. Unterstützt hätte ich eher den Entwurf von Castellucci, aber der war auch nicht ideal. Am Ende bin ich froh, dass beide Entwürfe vom Tisch sind. Ich habe die inständige Hoffnung, dass man sich noch einmal Zeit nimmt und mit Fachleuten einen Entwurf auf den Weg bringt, der auch der Vielfalt des Themas gerecht wird. Wir müssen vor allem die Menschen schützen, die nur vorübergehend betroffen sind oder die aus sozialen Gründen sagen, sie wollen nicht mehr leben.

Foto: Universitätsklinikum Dresden

Ute Lewitzka ist seit 2014 Leiterin der Privatambulanz an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Dresden.

Würden Sie sagen, der Bundestag muss sich weiter um eine Neuregelung der Sterbehilfe bemühen oder kann alles bleiben, wie es jetzt ist?

Ute Lewitzka: Wir brauchen eine Regelung, weil die Suizidassistenz ja schon stattfindet. Und es ist leider so, dass es auch einige hanebüchene Fälle gibt, die wir weder für uns noch für uns nahestehende Menschen haben wollen. Eine Regelung, mit deren Hilfe der Prozess überwacht werden kann, muss es geben. Was wir jetzt brauchen könnten, wäre eine Regierungskommission zur Erarbeitung eines Konzepts der Suizidhilfe und eines Suizidpräventionsgesetzes.

Das Bundesverfassungsgericht hat 2020 das 2015 erlassene Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe gekippt. Wie kann das geforderte Schutzkonzept des Staates geltend gemacht werden?

Ute Lewitzka: Das ist schwer, weil wir über ganz unterschiedliche Menschen sprechen. Wenn es um einen sterbenskranken Patienten geht, der nur noch wenige Wochen zu leben hat, wäre die Auffassung der Mehrheit vermutlich, dass die Möglichkeit der Suizidhilfe gewährt werden sollte. Oder geht es um einen Menschen in einer Lebenskrise oder mit einer schweren Depression? Wir brauchen eine Regelung mit unterschiedlichen Fristen und Zugängen zu den Betroffenen. Wir müssen hinter die Motive schauen. Geht es vielleicht um die Angst, in ein Pflegeheim zu müssen oder spielt Einsamkeit eine Rolle. Da geht es nicht um Suizidhilfe, sondern um Beratung von Menschen in suizidalen Krisen.

Das gängige Mittel für die Selbsttötung ist Natrium-Pentobarbital. Haben Sterbewillige in Deutschland überhaupt eine Chance, an dieses Medikament heranzukommen?

Ute Lewitzka: Dafür sorgen die Sterbehilfeorganisationen. Das kostet nach meiner Kenntnis im Schnitt zwischen 4.000 und 9.000 Euro, dann werden die Prozesse in Gang gesetzt. Es gibt auch Ärzte, die sich daran beteiligen. Die Organisationen haben ihre eigenen Strukturen aufgebaut und verfahren danach. Die Sterbehilfeorganisationen besorgen den Menschen dann entweder Natrium-Pentobarbital oder andere Substanzen, die genutzt werden.

Sie fordern Suizidprävention vor Sterbehilfe. Warum?

Ute Lewitzka: Wenn Suizidhilfe einer breiten Masse der Bevölkerung zur Verfügung gestellt wird, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Methode auch genutzt wird. Die wirksamste Möglichkeit, suizidpräventiv zu handeln, ist also eine Methodenrestriktion. Das Gegengewicht zur Suizidhilfe ist der Ausbau niedrigschwelliger Beratungsangebote und eine bessere Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Das muss vor der Suizidhilfe geregelt werden.

Was treibt Menschen in den Suizid?

Ute Lewitzka: Ich habe beruflich mit psychisch kranken Patienten zu tun, ich kenne aber auch Menschen, die "nur" in einer Lebenskrise stecken. Jeder, der schon einmal eine schwere Lebenskrise durchgemacht hat, weiß, dass auch Sinnfragen dahinter stehen können und das Gefühl, so nicht mehr weiter leben zu wollen. Es sind viele Faktoren, die Menschen in den Suizid treiben, darunter soziale Krisen, finanzielle Nöte und, als stärkster Risikofaktor, eine psychische Erkrankung. Diese Faktoren lassen sich aber beeinflussen, und da ist die Gesellschaft gut beraten, den Cocktail nicht leichtgängig zur Verfügung zu stellen.

Sterbehilfe in Deutschland

Das Karlsruher Urteil :Wesentlich geprägt hat die aktuelle Rechtslage das Bundesverfassungsgericht mit einem Urteil aus dem Februar 2020. Die Richterinnen und Richter erklärten das 2015 das beschlossene Gesetz "zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung" für verfassungswidrig - und nichtig. Mit dem Gesetz war im Strafgesetzbuch ein neuer Paragraf 217 aufgenommen worden, der eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder Geldstrafe vorsah. Geschäftsmäßig bedeutet in diesem Zusammenhang eine auf Wiederholung angelegte Tätigkeit, die aber nicht unbedingt kommerzieller Natur sein muss. Im Blick hatten die Abgeordneten damals beispielsweise Sterbehilfe-Vereine.

Konsequenzen für Ärzte: Im Lichte der Entscheidung strich der Deutsche Ärztetag im Mai 2021 das strikte Verbot der Suizidhilfe aus der Muster-Berufsordnung, betonte aber, dass es nicht zum Aufgabenspektrum der Ärzteschaft gehöre, Hilfe zur Selbsttötung zu leisten.

Neue Vorschläge: In der Politik wurde seit dem Urteilsspruch über eine Neuregelung diskutiert. In dieser Wahlperiode lagen schließlich drei fraktionsübergreifende Gesetzentwürfe vor, die unterschiedliche Konsequenzen zogen. Zwei eher liberale Entwürfe betonten vornehmlich das Recht auf selbstbestimmtes Sterben und die Möglichkeit, dafür Hilfe in Anspruch zu nehmen, während der dritte eher repressive Entwurf vor allem den Schutz des Lebens und der autonomen Entscheidung in den Mittelpunkt stellte.



Welche Erkrankungen sind das?

Ute Lewitzka: Depressionen gehören natürlich dazu, aber auch Abhängigkeitserkrankungen, etwa Alkoholsucht, führen zu einem höheren Risiko. Junge Menschen mit Psychosen, zum Beispiel Schizophrenie, zählen ebenfalls zu den Patienten mit einem deutlich erhöhten Suizidrisiko. Menschen können auch mehrere psychische Erkrankungen haben, zum Beispiel eine Depression und eine Angststörung.

Welche Altersgruppe oder welches Geschlecht ist besonders betroffen?

Ute Lewitzka: Es nehmen sich ein Drittel mehr Männer als Frauen das Leben, das Risiko steigt bei Frauen und Männern mit zunehmendem Lebensalter. Wir sehen zwischen 50 und 60 Jahren die meisten Suizide, auf der anderen Seite ist in der Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen der Suizid die zweithäufigste Todesursache. Es betrifft also die ganze Lebensspanne.

Begleitend zur Reform von 2015 sollte die Hospiz- und Palliativversorgung gestärkt werden, ist das nach Ihrer Einschätzung gelungen?

Ute Lewitzka: Es ist seither viel auf den Weg gebracht worden, aber wir dürfen jetzt nicht stehen bleiben. Die Hospizversorgung muss weiter ausgebaut werden, weil es Regionen ohne Hospizangebote gibt. Es müssen in der Palliativmedizin außerdem Strukturen aufgebaut werden, die es den Menschen ermöglichen, zu Hause zu sterben. Auch die Trauerbegleitung muss ausgebaut werden. Wir sind noch lange nicht da, wo wir sein müssten, um alten und kranken Menschen das Gefühl zu geben, an einem Ort gut sterben zu können und die deswegen die Suizidassistenz nicht in Anspruch nehmen.

Wie verträgt sich eine Demenz mit dem Wunsch nach Sterbehilfe?

Ute Lewitzka: In anderen Ländern ist die sogenannte vorausschauende Verfügung legalisiert worden, das hat erschreckend zunehmende Zahlen gebracht. Wenn Menschen dement sind, entscheidet dann ein anderer über die Suizidassistenz. Das ist eine Grenze, die ich schwer aushalten kann. Auch angesichts unserer Geschichte sollten wir in Deutschland einen anderen Weg gehen.

Wie gehen Mediziner mit der Verantwortung für Sterbehilfe um?

Ute Lewitzka: Ganz unterschiedlich. Viele Ärzte sagen in Umfragen, es ist in Ordnung, dass es die Suizidassistenz gibt, deutlich weniger Ärzte würden sich daran beteiligen. Wir müssten als Mediziner viel besser ausgebildet werden im Umgang mit Sterbewünschen. Manchmal wird die Hochleistungsmedizin weitergeführt, obwohl es keinen Sinn mehr macht. Wir müssen als Ärzte aushalten, dass ein Patient sterben will.


„Es nehmen sich ein Drittel mehr Männer als Frauen das Leben, das Risiko steigt bei Frauen und Männern mit zunehmendem Lebensalter.“
Ute Lewitzka

Lange hatten Ärzte große Angst vor Strafverfolgung im Kontext der Suizidhilfe. Ist die Angst nach dem Karlsruher Urteil verflogen?

Ute Lewitzka: Ich glaube, die Ärzte sind jetzt etwas entspannter. Bei vielen Medizinern steht aber immer noch ein Fragezeichen hinter der Suizidassistenz. Es gibt allerdings auch Ärzte, die den Eindruck erwecken, sie könnten über Leben und Tod entscheiden. Das finde ich ganz schwierig. Wir wissen aus Ländern, wo die sogenannte Euthanasie in Kliniken üblich ist, viel zu wenig, was das mit dem Pflegepersonal und den Ärzten macht.

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Welchen Rat geben Sie Menschen, die Ihnen sagen, dass Sie sterben wollen?

Ute Lewitzka: Ich nehme diese Menschen mit ihrem Sterbewunsch erst einmal an, um vorurteilsfrei mit ihnen in Kontakt zu kommen. Die Gründe können so unterschiedlich sein, vom hochbetagten Mann, der nicht ins Altenheim will, bis hin zur jungen Frau, deren Beziehung gerade kaputt gegangen ist. Ich lade die Menschen ein, sich ihre Motive genau anzuschauen und werbe dafür, sich Zeit zu nehmen, um die Entscheidung zu durchdenken. Meine Patienten sind am Ende eines Heilungsprozesses oft froh, dass sie nicht den Weg des Suizids gegangen sind.

Dr. Ute Lewitzka ist Psychiaterin am Universitätsklinikum Dresden und Vorstandsvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.
 

Die "Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention" listet zahlreiche Hilfsangebote für Menschen in suizidalen Krisen auf. Die Telefon-Seelsorge ist unter der Rufnummer 0800 1110111 erreichbar.