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Sonderkapitel im Jahreswirtschaftsbericht : Die Vermessung des Wohlstands

Im Jahreswirtschaftsbericht wurden zum zweiten Mal werden neben dem Bruttoinlandsprodukt weitere Kennzahlen zur Ermittlung der Lebensqualität herangezogen.

30.01.2023
2023-09-26T14:43:43.7200Z
4 Min

Was braucht es, um sich reich zu fühlen? Einer Erhebung des Instituts für Demoskopie Allensbach zufolge gaben im vergangenen Jahr rund 26 Millionen Menschen in Deutschland an, dass sie einen großen Wert auf ein hohes Einkommen und materiellen Reichtum legen. Dieser Wert hat sich in den vergangenen vier Jahren auch in Zeiten der Krise während der Corona-Pandemie kaum verändert.

Für die Grünen in Bundestag und Regierung reicht der Blick auf das Vermögen alleine aber nicht, um den Wohlstand Einzelner oder auch der gesamten Gesellschaft zu bemessen. Deshalb hatte das Bundeswirtschaftsministerium nach der Amtsübernahme durch Minister Robert Habeck dem Jahreswirtschaftsbericht 2022 erstmals ein Sonderkapitel angefügt, dass die Bemessung von Wohlstand neu ausrichten sollte.

Frauen in gute Arbeit bringen

So soll nicht mehr allein das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ausschlaggebend für die Bewertung des Reichtums und der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland sein.

"Die individuelle und damit auch die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt hängen von weit mehr als nur den wirtschaftlichen Rahmendaten ab", heißt es in dem Bericht. Die Wirtschaftsfachleute im Hause Habeck untersuchen deshalb nun auch, wie es hierzulande um die soziale Gerechtigkeit, die Gleichberechtigung der Geschlechter, eine intakte Natur oder den Zugang zu Bildung bestellt ist.

Im aktuellen Papier heißt es im Rückblick auf das Kriegs- und Krisenjahr 2022: "Gerade in Krisenzeiten steht der Staat in der Verantwortung, ein Mindestmaß an materiellem Wohlstand für die Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen." Doch um den Wohlstand in Deutschland zu "erneuern" (so auch der Titel des Papiers), müsse der Blick auf weitere Faktoren gelenkt werden.

Wirtschaftsminister Habeck nannte in seiner Regierungserklärung als prominentes Beispiel dafür den Indikator der Frauenerwerbstätigkeit: Nur wenn mehr Frauen in Vollzeit und in gut bezahlten Jobs arbeiteten, könnte der massive Fachkräftemangel effektiv bekämpft werden. Dieser wiederum gefährdet die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und bedroht damit den Wohlstand des ganzen Landes. Um Frauen das Arbeiten zu ermöglichen, müsse die Politik deshalb weiter die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern.

Belastung durch Wohnkosten

Ein weiterer der insgesamt 34 ausgewählten Indikatoren ist der "Anteil der Personen mit hohen Wohnkosten". Dieser bildet Personen ab, die in Haushalten leben, die mehr als 40 Prozent ihres verfügbaren Haushaltseinkommens für Wohnen ausgeben (müssen).

Im Jahreswirtschaftsbericht heißt es dazu, dass bei einem solch hohen Anteil nach Definition der Europäischen Statistik für Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) von einer Überlastung durch Wohnkosten ausgegangen werde - was sich wiederum auf den Wohlstand auswirken kann. Im Jahr 2021 galten 10,7 Prozent der Bevölkerung als bei den Wohnkosten überlastet, für das Jahr 2022 wird aufgrund der stark gestiegenen Energiekosten mit einem deutlich höheren Wert gerechnet.

Betrachtet wird des Weiteren auch die "Erreichbarkeit zentraler Einrichtungen der Daseinsvorsorge wie Schulen, Supermärkte, ÖPNV-Anbindungen und Krankenhäuser", da dies eine zentrale Voraussetzung für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse sei. Laut Bericht waren im Jahr 2020 für 53,6 Prozent der Bevölkerung ein Supermarkt, eine Post, eine Grundschule und eine ÖPNV-Haltestelle mit mindestens 20 Abfahrten pro Tag innerhalb eines Kilometers erreichbar. Andere Indikatoren sind unter anderem die Zahl der Gründerinnen, der Verdienstabstand zwischen den Geschlechtern, der Breitbandausbau oder die Investitionen in Maßnahmen für den Klimaschutz.

Die Frage nach der Wohlstandsbemessung ist nicht neu. Seit Jahren gibt es immer wieder Debatten über das Ende des klassischen Kapitalismus und die Faktoren, die abseits von Vermögen zum Wohlstand der Menschen beitragen. Im Bundestag hatte eine Mehrheit aus CDU/CSU, SPD und FDP bereits Anfang 2013 im Rahmen der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" ein Konzept mit dem Namen "Wohlstandsindikatorenansatz" beschlossen. Damals stimmten die Oppositionsfraktionen von Linken und Grünen gegen das Konzept, da es aus ihrer Sicht zu kompliziert und nicht geeignet sei, eine Debatte über die politischen Konsequenzen aus einer Neubemessung von Lebensqualität anzustoßen.

Harte Währung

Die Grünen hatten in der ihrer Zeit in der Opposition deshalb eigene Vorschläge gemacht: 2021 legten sie den "Jahreswohlstandsbericht" vor, der auf 172 Seiten acht Kernindikatoren für eine Neubewertung des Wohlstands benannte. Der Bericht knüpfte an vergleichbare Konzepte auf internationaler Ebene an, wie die "Beyond GDP"-Diskussion der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2007. Dort ging es auch schon um die Grenzen der Aussagefähigkeit des Bruttoinlandsproduktes und um welche Kenngrößen man eine Wohlstandsbewertung wohl ergänzen könnte.

Kritik am Sonderkapitel des Jahreswirtschaftsberichtes gibt es auch im zweiten Jahr, unter anderem aus der Opposition. Die Indikatoren würden sich in ihren Zielsetzungen zum Teil gegenseitig blockieren, zudem lenkten sie den Blick weg vom BIP, das als die harte Währung der Wohlstandsmessung gilt.

Ein weiteres Hindernis sei zudem die schlechte Datenlage: Zu viele Daten seien nicht aktuell oder würden nicht flächendeckend erfasst, um ein wirklich umfassendes Bild zeichnen zu können.