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Foto: picture alliance / SvenSimon-PressServiceOfUkraine / Press Office of Ukraine
Europäisches Bekenntnis: Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj mit EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola in Brüssel.

EU-Beitritt der Ukraine : Warum Kiew sich auf eine lange Wartezeit einstellen muss

Der ukrainische Präsident dringt auf rasche Beitrittsverhandlungen. Doch die meisten Fachleute in Brüssel glauben nicht an eine schnelle Aufnahme.

13.02.2023
2024-01-16T12:35:38.3600Z
5 Min

Für die Ukraine ist Europa ein "Weg, um nach Hause zurückzukehren". Das war die wichtigste Botschaft des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, als er vergangenen Donnerstag im Europäischen Parlament sprach. Noch in diesem Jahr wolle man Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union, sagte der Besucher aus Kiew bei einer Pressekonferenz in Brüssel. Ein Datum für den Beitritt nannte er jedoch nicht - anders als sein Regierungschef Denys Schmyhal, der mehrfach gesagt hatte, man könne "in weniger als zwei Jahren" EU-Mitglied werden. Bei vielen Mitgliedstaaten hatte das zu Kopfschütteln geführt.

Bericht bescheinigt Ukraine große Fortschritte

In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats, den Selenskyj persönlich besuchte, werden der Ukraine "beträchtliche Anstrengungen" bescheinigt, um die europäischen Reformauflagen zu erfüllen, die mit der Verleihung des Kandidatenstatus im Juni 2022 verbunden waren. Die engsten Unterstützer des Landes hätten daraus gerne "beträchtliche Fortschritte" gemacht, konnten sich gegen die skeptische Mehrheit im Rat aber nicht durchsetzen. Erst wollen die Staaten den mündlichen Bericht von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beim Treffen im März abwarten, dann den ausführlichen Erweiterungsbericht im Oktober. Erst danach, beim Dezember-Rat, könnten Verhandlungen beschlossen werden - wenn Kiew wirklich alle Voraussetzungen erfüllt. Aus Sicht der meisten Staaten bedeutet das, dass nicht nur neue Gesetze verabschiedet werden, insbesondere gegen Korruption, sondern dass sie sich auch in der Praxis bewähren.


„Russland wird auch für die Zerstörung zahlen müssen, die es angerichtet hat.“
Ursula von der Leyen (CDU), Präsidentin der Europäischen Kommission

Wie lange Beitrittsverhandlungen dauern würden, ist schwer zu sagen. Von der Leyen verweist öffentlich stets darauf, dass Fortschritte von den individuellen Leistungen abhingen. Es kann sechs Jahre bis zum Abschluss dauern wie bei Österreich oder selbst nach 17 Jahren keine nennenswerten Fortschritte geben wie bei der Türkei. Die meisten Fachleute in Brüssel glauben, dass die Ukraine eher mehr als weniger Zeit braucht. Tatsächlich verliert sie jeden Tag Wirtschaftskraft, weil Russland Infrastruktur zerstört. Solange das Land im Krieg mit Russland ist, kann es faktisch ohnehin nicht beitreten. Denn als Mitglied könnte es die kollektive Beistandsklausel im EU-Vertrag aktivieren (Art 42.7) - die Europäische Union will sich aber so wenig wie die Nato in einen direkten Konflikt mit Russland hineinziehen lassen.

Derzeit ist Kiew auf die Unterstützung der Europäischen Union angewiesen, um überhaupt über die Runden zu kommen. Die schießt allein in diesem Jahr 18 Milliarden Euro zum Haushalt zu: 1,5 Milliarden Euro im Monat, damit Löhne, Renten und Sozialleistungen weiter ausgezahlt werden können. Hinzu kommt humanitäre, technische und militärische Hilfe. Letztere beläuft sich auf zwölf Milliarden Euro seit Kriegsbeginn, wenn man zusammenrechnet, was die Mitgliedstaaten einzeln leisten und was aus der Europäischen Friedensfazilität bezahlt worden ist. Insgesamt haben die EU und ihre Mitglieder schon 50 Milliarden Euro direkt für die Ukraine aufgewendet, weitere 17 Milliarden indirekt für die Versorgung von Kriegsvertriebenen in den Mitgliedstaaten.

EU engagiert sich für Wiederaufbau des Landes

Der Krieg hat indes auf allen Ebenen zu einer Annäherung zur Union geführt. Schon das Assoziationsabkommen von 2014 ist das modernste, das die EU je mit einem Partnerland geschlossen hat. Ein gerade erneuerter Aktionsplan soll das Land noch stärker in den Binnenmarkt integrieren. Bereits seit Kriegsbeginn sind alle Zollschranken entfallen, wodurch der Handel mit der EU um 17 Prozent gewachsen ist.

Die EU engagiert sich auch für den längerfristigen Wiederaufbau des Landes. Sie hat mit den G7 eine Geber-Plattform geschaffen, um Partner und internationale Finanzinstitutionen zu koordinieren. Schätzungen über den Investitionsbedarf reichen von 350 Milliarden Euro bis zu einer Billion Euro; natürlich hängt es von den weiteren Kriegsschäden ab. Beamte wie Diplomaten weisen darauf hin, dass Summen in dieser Größenordnung nicht von den europäischen Steuerzahlern aufgebracht werden könnten. Aber wie dann?

Treuhandsfonds für russische Staatseinlagen?

"Russland wird auch für die Zerstörung zahlen müssen, die es angerichtet hat", sagte von der Leyen beim Europäischen Rat. Man erörtere nun mit den Partnern, wie die öffentlichen Vermögen Russlands dafür herangezogen werden könnten. Das betrifft rund 300 Milliarden Euro, die Russland im Ausland angelegt hat, Devisenreserven und Guthaben von Staatsunternehmen. Dieses Geld wurde nach Kriegsbeginn gesperrt. Allerdings ist es überaus heikel, Russland zu enteignen - dem steht das Prinzip der Staatenimmunität entgegen, das gerade Deutschland hoch hält, wenn es sich mit Entschädigungen für NS-Verbrechen konfrontiert sieht. Außerdem könnte die Stabilität des Finanzsystems gefährdet werden, würde große Anleger wie China ihre Devisenreserven abziehen.

Die Kommission hat vorgeschlagen, die russischen Staatseinlagen in einem Treuhandfonds anzulegen. Die Ukraine könnte dann die Gewinne bekommen. Allerdings hat der juristische Dienst des Rates dagegen gravierende Einwände erhoben. Russland könnte die EU verklagen und sämtliche Gewinne beanspruchen. Die Mitgliedstaaten sind weit von einer Lösung entfernt.

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Das betrifft auch ein Sondertribunal, um das Verbrechen der Aggression zu sühnen. Außenministerin Annalena Baerbock schlug im Januar ein hybrides Tribunal vor: nach ukrainischem Recht, aber mit internationalen Richtern und im Ausland. Es könnte jedoch den russischen Präsidenten selbst nicht anklagen, weil er durch die Staatenimmunität geschützt ist. Viele Mitgliedstaaten haben sich dagegen ausgesprochen. "Das ist eine grundfalsche Botschaft", sagte etwa die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas, weil "er derjenige war, der entschieden hat, die Ukraine anzugreifen und dafür zur Verantwortung gezogen werden muss".

Der Autor ist politischer Korrespondent der FAZ in Brüssel.