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Verkleinerung des Bundestages : Expertenstreit über Wahlrechtsreform

Die Ampelpläne, zur Verkleinerung des Bundestages nicht mehr jedem Wahlkreissieger zwingend ein Mandat zuzuteilen, stoßen in einer Anhörung auf ein geteiltes Echo.

13.02.2023
2023-11-02T17:20:23.3600Z
5 Min
Foto: picture-alliance/dpa//Revierfoto

Wahlkreiskandidaten werben bei der Bundestagswahl 2021 im Berchtesgadener Land um die Erststimme.

Bereits im vergangenen Herbst mahnte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) eine zügige Entscheidung über eine Wahlrechtsreform zur Verkleinerung der Abgeordnetenzahl im Parlament an. Soweit es um die Größe des Bundestages und die Frage eines Neuzuschnitts von Wahlkreisen gehe, müsse es "spätestens Anfang 2023 eine Entscheidung dazu geben", hatte sie dieser Zeitung gesagt und darauf verwiesen, dass ein solcher Neuzuschnitt ein längerer Prozess wäre, "der rechtzeitig vor der Wahl rechtskräftig abgeschlossen sein müsste".

Mittlerweile liegen zur Reduzierung der Mandatszahl zwei Gesetzentwürfe und ein Antrag vor, über die der Bundestag in Januar erstmals debattierte; vergangene Woche waren die Vorlagen Thema einer Sachverständigen-Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat. Nach dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen von SPD, Grünen und FDP soll es bei 299 Wahlkreisen und zwei Wählerstimmen bleiben, wobei die Ampel die bisherige Erststimme als "Wahlkreisstimme" bezeichnen will und die Zweitstimme als "Hauptstimme". Durch den Verzicht auf Überhang- und Ausgleichsmandate will sie die Bundestagsgröße sicher auf die gesetzliche Sollgröße von 598 Mandate begrenzen. Hat eine Partei in einem Land mehr Wahlkreissieger als ihr Listenmandate zustehen, sollen von diesen "Erststimmenkönigen" diejenigen mit den relativ schlechtesten Ergebnissen leer ausgehen. Dies könnte dazu führen, dass einzelne Wahlkreise nicht mehr durch einen direkt gewählten Abgeordneten im Bundestag vertreten wären.

Dieses Modell verfolgt im Kern auch die AfD-Fraktion mit ihrem Gesetzentwurf, der ihren Vorschlag aus der vorigen Wahlperiode aufgreift. Dagegen schlägt die CDU/CSU-Fraktion in ihrem Antrag vor, die Zahl der Wahlkreise auf 270 zu reduzieren und die Zahl unausgeglichener Überhangmandate auf bis zu 15 erhöhen. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei über die Erststimme mehr Direktmandate erringt, als ihrem für die Sitzverteilung maßgeblichem Zweitstimmenergebnis entspricht. Seit 2013 werden sie durch Ausgleichsmandate für die anderen Parteien kompensiert, was zu einem Anstieg der Abgeordnetenzahl auf aktuell 736 führte.

Gegensätzliches Echo der Sachverständigen

In der Anhörung stießen die Vorschläge der Fraktionen bei den Sachverständigen auf ein gegensätzliches Echo. Jelena von Achenbach, Professorin für öffentliches Recht an der Justus-Liebig-Universität Gießen, lobte am Ampelentwurf, dieser sei konservativ, weil er die bestehende Struktur des Wahlrechts fortsetze, verfassungskonform, weil die Verbindung von Verhältniswahl und Wahl nach lokalen Wahlvorschlägen im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers liege, und fair, weil er keine Partei strukturell benachteilige. Der Rechtswissenschaftler Christoph Möllers, Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, sprach von einem einfachen Konzept, mit dem die Verkleinerung des Bundestages erreicht werde und das eine föderale Repräsentation schaffe.

Möllers Kollege Professor Florian Meinel von der Georg-August-Universität Göttingen betonte, parlamentarische Repräsentation müsse einheitlich sein und für alle Gewählten dasselbe bedeuten. Vorstellbar wäre aus seiner Sicht, im Ampelentwurf die Hauptstimmendeckung dann aufzuheben, wenn ein Bewerber seinen Wahlkreis mit mehr als 50 Prozent der Wahlkreisstimmen gewinnt, was im jetzigen Bundestag nur einem Abgeordneten gelungen sei. Der Mathematiker Friedrich Pukelsheim, emeritierter Professor der Universität Augsburg, hob hervor, dass der Ampelentwurf die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen sichere.

Nach Ansicht von Professorin Sophie Schönberger, Staatsrechtlerin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, schafft der Ampelvorschlag, was das geltende Wahlrecht über Jahrzehnte nicht geleistet habe: die Zahl der Abgeordneten auf 598 zu begrenzen und ein proportionales Abbild des Wählerwillens zu erzeugen. Der Juraprofessor Uwe Volkmann von der Goethe-Universität Frankfurt am Main bemängelte, der Unionsvorschlag, die Zahl der Wahlkreise auf 270 zu begrenzen sowie 15 Überhangmandate nicht auszugleichen, würde nach seiner Einschätzung das Ziel verfehlen, die Regelgröße einzuhalten. Eine Reduzierung der Zahl der Wahlkreise wäre zudem nicht einfach.

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Deutliche Kritik am Ampelentwurf kam von Professor Philipp Austermann, Staatsrechtler an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, der nur den Unionsantrag als verfassungskonform und alle übrigen Vorlagen als verfassungswidrig einstufte. Er diagnostizierte eine Ungleichbehandlung von Wählerstimmen und prognostizierte, dass eine zweistellige Zahl von Wahlkreisen künftig ohne direkt gewählten Abgeordneten auskommen müsste.

Stefanie Schmahl, Professorin für öffentliches Recht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, sagte, das Grundgesetz kenne eine "proporzkonditionierte Mehrheitsregel" nicht. Problematisch sei, dass die Hauptstimme im Ampelentwurf zur entscheidenden Determinante und die Wahlkreisstimme zum Beiwerk degradiert werde. Professor Bernd Grzeszick, Staatsrechtler an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, konstatierte in seiner Stellungnahme, die in Überhangsituationen vorgesehene Nichtzuteilung von Wahlkreis-Mandaten beeinträchtige die Gleichheit der Wahl. Dies bedürfe der Rechtfertigung, doch fehle es wohl an entsprechenden, zwingenden Gründen.

Linke fordert Ausländerwahlrecht

Zur Anhörung lagen auch Anträge der Linksfraktion vor, das Mindestalter für das aktive Wahlrecht auf 16 Jahren zu senken, ein Ausländerwahlrecht einzuführen und im Parteiengesetz festzuschreiben, dass Frauen und Männer bei der Listenaufstellung gleichermaßen berücksichtigt werden. Professor Tarik Tabara von der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht wertete die Einführung eines Ausländerwahlrechts ab einem fünfjährigen legalen Aufenthalt in der Bundesrepublik als "wichtigen Schritt für die Demokratie in Deutschland".