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Foto: picture alliance/dpa/Michael Kappeler
"Kein zentraler Akteur": Bundeskanzler Olaf Scholz am Donnerstag vor dem Afghanistan-Untersuchungsausschuss.

Scholz im U-Ausschuss : Leiser Zeuge

Der Bundeskanzler verteidigt den früheren Innenminister Seehofer, Ex-Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer ihre Lockerungen für Ortskräfte.

15.11.2024
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4 Min

Bundeskanzler Olaf Scholz redet, trotz mehrfacher Bitten des Vorsitzenden und Parteifreunds Ralf Stegner (SPD), er möge ins Mikrofon sprechen, so leise, dass er kaum zu verstehen ist. Er habe sich als politisch interessierter Bürger immer mit dem Thema Afghanistan beschäftigt, sei jedoch "kein zentraler Akteur" gewesen, schickt er voraus, offensichtlich um eventuell hohe Erwartungen während der Sitzung des 1. Untersuchungsausschusses Afghanistan am vergangenen Donnerstag zurückzuschrauben.

Zum Aufklärungsinteresse des Ausschusses, also zu den Entwicklungen zwischen dem Doha-Abkommen, mit dem der Abzug internationaler Truppen aus Afghanistan vereinbart wurde, und der chaotischen Evakuierungsoperation aus Kabul 2021, kann Scholz tatsächlich wenig beitragen. Dennoch zeigen die Medien zum ersten Mal, seitdem der Ausschuss seine Arbeit vor zweieinhalb Jahren aufgenommen hat, plötzliches Interesse. Kameraleute und Fotografen belagern den Eingang des Europasaals im Bundestag.

Zum "Nation Building" äußert sich Bundeskanzler Scholz skeptisch

Er habe sich Sorgen um die Sicherheit der Bundeswehrsoldaten gemacht, weil er befürchtet habe, der damalige US-Präsident Donald Trump könne den sofortigen Abzug der US-Truppen beschließen, berichtet der Bundeskanzler. Angesichts der Terroranschläge vom 11. September 2001 sei der Einsatz "sehr berechtigt" gewesen. Zum "Nation Building" äußert sich Scholz dagegen sehr skeptisch. Er habe nie geglaubt, in Afghanistan könne "ein Staat wie Deutschland entstehen". Demokratisierungsprozesse müssten "am Ende aus dem Land heraus getragen werden".

Auch zum Thema Ortskräfte wollte der SPD-Politiker nur generelle Beobachtungen beisteuern. Wenn man gewusst hätte, wie schnell die afghanische Regierung zusammenbrechen würde und die Taliban das Land erobern würden, hätte man die Ortskräfte viel schneller aus dem Land gebracht, glaubt er. Er selbst sei immer für eine pragmatische Lösung gewesen. Sein Fazit: "Das Ergebnis war nicht zufriedenstellend." Seine Kritik richtet sich dabei im Allgemeinen gegen die Nachrichtendienste und die damalige afghanische Regierung, die "das Land kampflos aufgegeben" habe.

Scholz nimmt Seehofer in Schutz

Den damaligen Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) nimmt der heutige Bundeskanzler allerdings in Schutz. Im Kabinett habe es "Dissens" über das Ortskräfteverfahren (OKV) gegeben, aber Seehofer habe aus sicherheitspolitischen Gründen an der Beibehaltung des schwerfälligen Verfahrens festgehalten. Seehofer selbst hatte bei seiner Vernehmung vor einer Woche betont, er habe bei seinen Entscheidungen die Flüchtlingskrise von 2015 vor Augen gehabt und es sei ihm um die Zahlen gegangen.

Horst Seehofer im Untersuchungsausschuss

Horst Seehofer vor einer blauen Wand
Zeuge Horst Seehofer sagt aus: "Ich kann in den Spiegel schauen"
Ex-Innenminister Horst Seehofer verteidigt seine Entscheidungen zum Visa-Verfahren für Ortskräfte - und erklärt, warum er Abschiebungen für gerechtfertigt hielt.

Olaf Scholz nutzt die Vernehmung dafür, seine grundsätzliche Position zu Abschiebungen zu unterstreichen. Er sei "damals wie heute" der Meinung, man müsse Straftäter, wenn möglich, abschieben, sagt er.

Afghanistan-Einsatz hat insgesamt 17 Milliarden Euro gekostet

Der Bundeskanzler, der im Kabinett Merkel Vizekanzler und Finanzminister war, nimmt auch zu den Kosten des Afghanistan-Einsatzes kurz Stellung. Der gesamte Einsatz habe 17 Milliarden Euro gekostet. Das sei der gleiche Betrag, den Deutschland in der Ukraine in einem Jahr ausgebe, seitdem das Land 2022 von Russland angegriffen worden sei. "Ich wollte die Dimensionen darstellen", betonte Scholz.

Foto: picture alliance/dpa/Britta Pedersen

Die damalige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) beim Truppenbesuch 2019 in Afghanistan.

Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), die 2021 als Bundesverteidigungsministerin den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan politisch verantwortete, kann am Donnerstag im Ausschuss Konkreteres zur Aufklärung beitragen.

Sie kritisiert das Doha-Abkommen wegen des festen Abzugsdatums und wegen "relativ schwach formulierter Bedingungen" für die Taliban, nennt den damaligen Übergang von der Trump- zur Biden-Administration "einen schweren Machtwechsel" und bezeichnet das OKV als "zu komplex und zu langsam".

Nach Krisensitzung “Evakuierungsmission” ausgelöst

"Ich habe beschlossen, die Entscheidungen voranzutreiben", sagt Kramp-Karrenbauer. Ihr Hauptziel sei gewesen, die Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten sicher nach Hause zu bringen. Eine Aufgabe, die durch die knappe Zeit erschwert worden sei. Dann fügt sie hinzu: “Ich kann heute feststellen, dass die Bundeswehr diesen komplexen Auftrag gemeistert hat.”

Am 12. August 2021 habe sie erfahren, dass die US-Truppen an den Kabuler Flughafen verlegt worden seien. Diese Nachricht habe sie alarmiert. Sie habe darauf gedrängt, die geplante Krisenstabsitzung vorzuziehen, um "eine robuste Evakuierungsmission zu planen", habe mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) telefoniert und am nächsten Tag mit den betroffenen Ressorts über die Situation gesprochen. Durch diese Gespräche habe es keinerlei Verzögerungen gegeben, betont Kramp-Karrenbauer. Zwei Tage später habe die Bundesregierung die Evakuierungsmission ausgelöst, die Soldatinnen und Soldaten seien ausgeflogen.

Ministerin wollte Lockerungen beim Ortskräfteverfahren

Die Ex-Ministerin unterstreicht, dass es keine klassische Evakuierungsmission, sondern vielmehr eine improvisierte Mission, "eine internationale Luftbrücke" unter der Führung der USA gewesen sei, bei der Tausende Menschen ausgeflogen wurden, deren Land gerade zusammengebrochen war.

Die Ortskräfte der Bundeswehr bezeichnet Kramp-Karrenbauer als "ein emotionales Thema für mich". Für die Soldaten sei es wichtig gewesen keine Kameraden zurückzulassen. Sie habe sich "engmaschig" über die Evakuierung der Ortskräfte informieren lassen, für die es 2021 eine latente Gefahr gegeben habe. Das geübte OKV habe in Krisenzeiten nicht ausgereicht, weshalb sie sich für Lockerungen des Verfahrens starkgemacht habe. "Der Druck, den ich ausübte, mein öffentlicher Auftritt, war entgegen den Gepflogenheiten", sagt sie, "aber es hat geklappt".

Persönlicher Einsatz für Erweiterung des Kreises der Aufnahmeberechtigten

Sie habe sich auch persönlich dafür eingesetzt, dass der Kreis der Aufnahmeberechtigten erweitert wurde. "Das geschah durch einen Kabinettsbeschluss", so Kramp-Karrenbauer. "Der Druck der Bundeskanzlerin und ihr Wort bei anderen Kollegen" habe das ermöglicht. Es sei im Spätsommer 2021 Wahlkampf gewesen, die öffentliche Debatte über Migration habe eine große Rolle gespielt.

Die Charterflüge, für die sie sich ebenso eingesetzt habe, hätten hingegen nie stattgefunden. "Gestern habe ich erfahren, dass ein sehr hoher Prozentsatz unserer Ortskräfte Afghanistan verlassen konnte", sagt Kramp-Karrenbauer. Trotzdem bleibe die Frage, ob nicht so viele zurückgelassen hätten werden müssen, , wenn der Kreis der Aufnahmeberechtigten früher erweitert und Charterflüge ermöglicht worden wären.

Zwischenbilanz zur Arbeit

Collage: Jörg Nürnberger und Thomas Röwekamp im Porträt
Interview zum Afghanistan-Abzug: "Es fehlte weitgehend an Koordinierung"
Die Obleute von SPD und Union, Jörg Nürnberger und Thomas Röwekamp, ziehen eine Zwischenbilanz zur Arbeit des Untersuchungsausschusses Afghanistan.